Die Faszination lyrischer Stimmen

Lyrik | FALTBLATT Nr. 9 – Edition YE

Theo Breuers eigenwilliges FALTBLATT gibt jährlich einen guten Überblick über das lyrische Schaffen in Deutschland.Von MICHAEL MÄDE

Faltblatt-N-9-Lyrische-Zeitschrift-Hg-v-Theo-Breuer-Editon-YE-2004-9-Ausgabe-Sistig-EifelNach einer meiner Lesungen in Berlin trat eine resolute junge Frau an mich heran und meinte, sie hätte etwas für mich, das ich sicherlich gebrauchen könne. Ja, ja, dachte ich, gewiss, dachte ich. Sie drückte mir die 9. Ausgabe der Lyrikzeitschrift FALTBLATT in die Hand und nannte den Preis. Ich habe ihn bezahlt. Die Frau hatte Recht. Das FALTBLATT konnte ich gebrauchen. Und die sieben Euro empfand ich nach der Lektüre als einen fairen Preis.

Vom einfachen Faltblatt zur Broschüre im Buchumfang

FALTBLATT also – der Name des Heftes ist inzwischen ein ziemlicher Anachronismus geworden. Was 1994 wirklich mit einem Faltblatt in einer Auflage von rund 100 Exemplaren begann, hat in der Nummer 9 mit einem Umfang von 118 Seiten und einer Auflage von 900 Exemplaren das Ausmaß einer ziemlich umfänglichen Broschüre angenommen. Die Zeitschrift stellt in der hiesigen Literaturlandschaft eine singuläre Erscheinung dar. Dies hat sicher damit zu tun, dass Herausgeber und Verleger Theo Breuer der Zeitschrift seinen sehr persönlichen Stempel aufdrückt. Breuer ist ein Lyrikbesessener im besten Sinne des Wortes. Er ist nicht nur begeisterter Liebhaber lyrischen Schaffens, sondern vor allem kenntnisreicher (Ver-)Mittler und einfühlsamer Leser mit der Fähigkeit, Bücher entsprechend vorzustellen. So entsteht mit FALTBLATT eine lyrische Zusammenschau, die – übers Jahr zusammengetragen – eine beinahe tagebuchförmige, zuweilen essayistische Struktur ergibt. So wird man eine Sortierung nach Rubriken (hier Buchvorstellungen, da Gedichte, dort Essays) vergeblich suchen. Man kann anfangen zu lesen, wo man will, immer trifft man auf viel Information, auf gute Gedichte, auf über 100 Buchvorstellungen, und auch Verlage bzw. deren lyrische Programme werden ausführlich vorgestellt. Die Vorstellung von Literaturzeitschriften erfolgt in knapper und prägnanter Form und mit den entsprechenden Bezugsangaben. (Dies besorgt verdienstvoll Andreas Noga, lediglich die Vergabe von Sternen für die Qualität nervt etwas.)

Deutliche Meinungsäußerungen polarisieren

FALTBLATT ist eine Fundgrube für alle, die sich ein Bild von der Vielfalt der lyrischen Stimmen im deutschsprachigen Raum (und immer wieder auch darüber hinaus) machen wollen. Dabei fällt auf, dass für Breuer auch bisher eher weniger beachtete Autoren von Bedeutung sind, sofern sie über eine eigene originäre lyrische Stimme verfügen. Gleiches gilt für kleine Verlage und Handpressen. Es kommt dem Herausgeber offensichtlich weniger auf das »Wertungsgefüge« des Literaturbetriebs an als auf eigene Maßstäbe. Das sorgt bisweilen für Konfliktstoff. So sensibel Breuer meistens mit Autoren und ihrem Schaffen umgeht, so klar sagt er auch, wenn er etwas für misslungen hält, wenn er etwas zu kritisieren hat. Man muß nicht immer Breuers Meinung sein, man kann sogar seine zuweilen schnoddrige Schreibart missbilligen. Aber auch »Reibung« an seinen Auffassungen, die zumeist profunde begründet sind, kann Spaß machen und das Nachdenken über lyrische Produktion anregen. 

So sei das FALTBLATT also auch den »lesenden« Autoren (den Produzenten von Lyrik!) empfohlen – nicht zuletzt wegen der zahlreichen Gedichte sowie kenntnisreicher Essays und kritischer Texte anderer Autoren. FALTBLATT-Autoren sind u.a. Michael Arenz, Margot Beierwaltes, Hans Bender, Joseph Buhl, Marianne Glaßer, Michael Hamburger, Stefan Heuer, Axel Kutsch, Christoph Leisten, Hartwig Mauritz, Frank Milautzcki, Andreas Noga, Antje Paehler, Jan Röhnert, Walle Sayer, Saza Schröder, Heike Smets, Gerd Sonntag, Rüdiger Stüwe, Christa Wißkirchen und Maximilian Zander. 

FALTBLATT ist ein unkommerzielles Projekt. Die folgenden Dinge wird der Leser vergeblich suchen, wenn er sie denn sucht: Anzeigen von Verlagen, Hinweise auf den Literaturbetrieb und leider auch die ISBN bei den vorgestellten Büchern (was, will man zügig bestellen, manchmal wirklich nervt), keine Ausschreibungen zu Preisen und Wettbewerben. Dies ist Breuers Sache und Anliegen nicht. Dafür übermittelt FALTBLATT Nachrichten aus den Werkstätten der Lyrik eines Jahres. Es fördert das Nachdenken über lyrisches Schaffen und gibt Raum für dieses Nachdenken aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Es gibt einen Einblick in die Lebendigkeit und Vielstimmigkeit lyrischen Schaffens auch jenseits der »Rollbahnen« der Vermarktung. Nicht zuletzt das macht es zu einem wichtigen Pulsmesser der Lyrikszene in diesem Land.

Leider erscheint FALTBLATT nur einmal im Jahr. Bisweilen vergehen auch ein paar Monate mehr. Anderes würde die Möglichkeiten dieses Einmannunternehmens – in dem neben FALTBLATT die ebenfalls jährlich edierte Kunstschachtel YE sowie eine Lyrikreihe mit etwa 4 Titeln pro Jahr erscheint – wohl überfordern. So üben wir uns also in Geduld bis zum Erscheinen von FALTBLATT 10, mit dem in der zweiten Jahreshälfte 2005 zu rechnen ist. Die Geduld lohnt sich.

| MICHAEL MÄDE

Titelangaben
FALTBLATT Nr. 9, Edition YE.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Das ist der Stoff, aus dem die Soaps sind

Nächster Artikel

Monumente einstiger Kulturen

Weitere Artikel der Kategorie »Lyrik«

»ihre zeit wird kommen, wenn sie vergangen ist«

Lyrik | Andreas Altmann: Von beiden Seiten der Tür

Ein neuer Gedichtband von Andreas Altmann – und wer sich mit und vor allem in den Gedichten des in Berlin und in der Prignitz lebenden Autors auskennt, für den ist an dieser Stelle Vieles bereits gesagt, sind die Gedichte von Andreas Altmann im lyrischen Kanon doch längst zu einem Synonym für den gewissenhaften und jede Effekthascherei meidenden Umgang mit und die sorgsame Arbeit am Wort geworden, für einen eigenen Sprachkosmos, in dem er sich seit seinen ersten Bänden traumwandlerisch sicher bewegt; intensiv, souverän, freiwillig reduziert. Von STEFAN HEUER

»Die Wahrheit ist ein Weib, aber ein Wasserweib«

Lyrik| Doris Runge: Zwischen Tür und Engel So harmonisch das Kloster in Cismar und das dortige »Weiße Haus« in die Landschaft Ostholsteins eingebunden sind, so angenehm ist sogar im Hochsommer zur Badesaison des nahe gelegenen Ostseebads die dortige Ruhe und »Insellage« des Klostergemäuers – schattig und kühl die Lage, besinnlich und fast meditativ der Ort und nur wenige Touristen machen hier einen Zwischenhalt. In diesem besonderen, abgegrenzten Areal lebt seit 1976 die mecklenburgische Dichterin Doris Runge. Anlässlich ihres 70. Geburtstags hat die Deutsche Verlagsanstalt in diesem August ihre gesammelten Gedichte in einem wunderbar gestalteten Sammelband herausgegeben – zwischen tür und

Front-Begradigung

Lyrik | Peter Engel: Zwei Gedichte

Frontbegradigung

Der Zickzack meiner Tätigkeiten,
die Schübe meines Tuns, Ausschläge
von Aktivität, von Wirksamkeit:
Das alles auf den Prüfstand
und mit fragenden Blicken,
Zurücknahmen und Beschränkungen.