Meister des Chaos

Comic | W. Lupano (Text); J.-B. Andreae (Zeichnungen): Azimut Band 1: Jäger der verlorenen Zeit

Während in ihrer bunten Welt Azimut die Naturgesetze verrücktspielen, hält das versierte Duo Lupano und Andreae gekonnt die erzählerischen und künstlerischen Fäden dieses Comics zusammen. BORIS KUNZ über den ersten Band einer humorvollen, originellen Trilogie, die im ›Splitter Verlag‹ einen erfrischenden Akzent setzt.

Peinliche Begegnungen am Strand von Pondua

AzimuthGraf Quentin von Perock, stolzer Seefahrer und Eroberer, vom Königreich Pondua aus aufgebrochen, den großen Ozean zu überqueren und fremde Länder zu entdecken, erreicht nach zwei Jahren entbehrungsreicher Seefahrt endlich Land – nur um festzustellen, dass er im Kreis gefahren und wieder in Pondua angekommen ist. Was für Perock eine entsetzliche Schande ist, kann der König von Pondua noch mit Humor nehmen. Schließlich weiß er schon länger, dass der Norden als Himmelsrichtung bereits vor Monaten verloren gegangen ist. Seither zeigen die Kompasse jeden Tag in eine andere Richtung und immer wieder knallen gewaltige fliegende Fische orientierungslos in die Dünen von Pondua, was weniger dramatisch ist, weil sie köstlich schmecken, wenn man sie mit Fenchelgemüse zubereitet.

Irgendetwas stimmt nicht in Azimut, die Himmelsrichtungen und Jahreszeiten geraten gehörig durcheinander, und auch andere Abenteurer, Forscher und Entdecker bekommen auf ihren Expeditionen die Auswirkungen zu spüren. Etwa Professor Albrecht Uhrmacher, der in seinem fahrbaren Laborschiff dem Geheimnis der Chronoptären und dem Mechanismus der Zeit auf die Spur kommen möchte. Oder Major Orestes Schnäbel, pensionierter Offizier und Kopfjäger zur Aufbesserung seiner Rente, der gemeinsam mit einem sprechenden Kaninchen auf der Jagd nach einer wunderschönen Diebin ist, die allen Männern den Kopf verdreht. Diese wiederum hat sich unter dem Namen Prinzessin Aisha Paridosa in den Königspalast von Pondua eingeheiratet und scheint dort einen geheimnisvollen Plan zu verfolgen, in dem der Schlüssel zu dem ganzen Chaos zu finden sein könnte. Denn als die Ereignisse ins Rollen kommen, deutet immer mehr darauf hin, als sei sie es gewesen, die den Nordpol gestohlen hat…

Von Eumeln, Haubentickern, Klepsykranichen und anderen Chronoptären

›Azimut‹ bietet eine humorvolle und keineswegs unspannende Erzählung vor dem Hintergrund einer Welt, die auf den ersten Blick von skurrilen und originellen Einfällen nur so strotzt. Mit dem Voranschreiten der Geschichte gewinnen die Wunder von Azimut einen immer klareren Zusammenhang, sind also nicht willkürliches Abfeiern von Einfallsreichtum, sondern stehen ganz im Dienst der Geschichte. Und diese erzählt Wilfrid Lupano (ähnlich wie seine Satire über den Affen von Hartlepool) ganz ohne strahlenden Helden. Ihm genügen eine Ansammlung schräger Vögel und eine verführerische Diebin, deren Absichten undurchschaubar bleiben, während sie nicht davor zurückschreckt, dem Publikum Einblicke anderer Art zu gewähren. Und dann gibt es natürlich noch den albtraumhaften Zeiträuber, der am Ende des Albums in Erscheinung tritt – und den Leser hoffen lässt, dass all die schrägen Helden dieser Geschichte am Ende doch noch zusammenfinden, um die Zeit und die Welt wieder ins rechte Lot zu rücken.

Zeichner Jean-Baptiste Andreae, an dessen frechem Strich man sich bereits in seinem eigenen Werk ›Die mechanische Welt‹ erfreuen konnte, hat Lupanos Welt mit weiteren liebevollen Details ausgestaltet und lässt in seiner Umsetzung weder den Humor noch den Augenschmaus zu kurz kommen. Natürlich sind die Figuren teilweise recht grotesk und wirken bisweilen wie Karikaturen, doch Andreae hat ihnen genug Leben eingehaucht, um sie dennoch zu Sympathieträgern zu machen. Auch in der Gestaltung der Welt gelingen Andreae ähnliche Balanceakte zwischen Überzeichnung und Stimmung, großer Geste und Stilsicherheit.
Es gelingt ihm, einer Welt, die von Eumeln (sprachbegabte Mischwesen aus Tier, Mensch und Puppe) und Chronoptären (Kreuzungen aus Vögeln, Insekten und wissenschaftlichen Messinstrumenten) bevölkert wird, und die kunstgeschichtlich irgendwo zwischen Jugendstil, Steampunk und ›Alice im Wunderland‹ angekommen ist, genug grafische Stringenz zu verleihen, damit sie nicht auseinanderfällt. Die Bilder sind bunt aber nicht grell, voller Details aber dank der großen Panels dennoch niemals unübersichtlich.

›Azimut – Jäger der verlorenen Zeit‹ ist fantasievoll, ohne versponnen zu sein und in einem wunderbar frischen Ton erzählt. Vorbilder kann man eher bei Michael Ende, Terry Pratchett oder Terry Gilliam suchen, als in den einschlägigen, martialischen und mittelalterlichen Fantasywelten tolkienscher Prägung.

Auch wenn das Spiel mit der Zeit nicht unbedingt neu ist, und man ähnliche Motive auch anderswo schon gesehen hat, nehmen Autor und Zeichner ihre Welt ernst genug, um sie nicht wie eine Zitatensammlung erscheinen zu lassen. Mit dieser Art von Eigenständigkeit hat sich der Band irgendwo zwischen den ›Gläsernen Schwertern‹ und ›Thorinth‹ platziert – und das Programm des Splitter-Verlages um eine weitere bunte Note bereichert.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Wilfrid  Lupano (Text), Jean-Baptiste Andreae (Zeichnungen): Azimut Band 1: Jäger der verlorenen Zeit
(Azimut: Les Aventuriers du Temps Perdu)
Aus dem Französischen von Tanja Krämling
Bielefeld: Splitter Verlag 2014
48 Seiten, 13,80 Euro

Reinschauen
| Webseite des Zeichners Andreae
| Informationen über Autor Lupano
| Blog von Lupano (Französisch)

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