/

Haarsträubend, katastrophal

Gesellschaft | Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht

 
In seinem neuesten Werk zeichnet Colin Crouch, der den Begriff ›Postdemokratie‹ prägte, ein erschütterndes Bild von der britischen Gesellschaft der Gegenwart. Der Satz »There is no such thing as society«, fälschlich Margaret Thatcher zugeschrieben, trifft dennoch diesen Zustand und erklärt gleichzeitig, weshalb Jeremy Corbyn, von der elitären FAZ herablassend zum »Heilsbringer der Toten« degradiert, zum Favoriten für den Parteivorsitz der Labour Party wurde. Von WOLF SENFF
 
BezifferteWeltWobei die deutsche Fassung des Untertitels den Leser vor Rätsel stellt. Denn tatsächlich beschreibt Crouch anhand einer überwältigenden Fülle von Beispielen den »Financial Takeover of Public Life«, also die Machtergreifung des Finanzsektors über das öffentliche Leben. Da wirkt die Übertragung recht luschig.
 
Vertrauen in den ›Markt‹?

Crouch setzt sich mit dem Neoliberalismus und dessen radikaler ›Markt‹-Gläubigkeit auseinander, er unterscheidet »deutsche Ordoliberale«, die eine Regulierung des Marktes für notwendig halten, und »neoliberale Puristen«, denen zufolge sich der Markt selbst überwache; auch »moralische Verbote« seien deshalb »Hindernisse, die der Erreichung höchster Effizienz im Wege stehen«; letztere Variante dominiere in den angloamerikanischen Nationen. 
 
Das Vertrauen in ein reibungsloses Funktionieren des Marktes sei jedoch in der Weltwirtschaftskrise 2007/08 generell schwer erschüttert worden. Crouch begründet überzeugend, dass ›der Markt‹ durch subjektive Interessen beeinflussbar sei, absichtlich gestreuten Fehlinformationen ausgeliefert und eben nicht, wie einst von seinem Theoretiker Friedrich von Hayek postuliert, »frei von systematischen Unzulänglichkeiten«, die Reformpolitik des Neoliberalismus sei demzufolge grundsätzlich in Frage zu stellen.
 
Einseitige Interessenlage

Crouch erinnert an die Katastrophen neuer Dimension, Deepwater Horizon vor New Orleans und Fukushima in Japan, beides Fälle, in denen es nachgewiesenermaßen ein »betrügerisches geheimes Einverständnis zwischen dem Unternehmen und den Aufsichtsbehörden« gab und Sicherheitsbedenken ignoriert wurden; im angloamerikanischen Raum dominiere jedoch bei Unternehmensentscheidungen stets das Interesse der Aktionäre, das auf Profitmaximierung hinauslaufe. Andere Interessen eines Unternehmens – Sicherheit, Gesundheit, Arbeitnehmer – seien absolut nachrangig.
 
Ähnlich einseitig habe sich der Umgang der EU mit Griechenland gestaltet, der für Entscheidungen lediglich Information aus der Finanzwelt zugelassen und andere Bereiche wie Infrastruktur, Gesundheit, Sozialstruktur, Arbeitslosigkeit gar nicht erst einbezogen habe.
 
Ab absurdum geführt

Dass so etwas wie ›der Markt‹ als ein System existiere, das gegensätzliche Interessen ausgleiche, ausbalanciere, erweist sich nach den vielfältigen Beispielen, die Colin Crouch heranzieht, als illusionär. Er erinnert an den Libor-Skandal, der Banken von Weltruf eine systematisch organisierte betrügerische Informationspolitik nachwies, an gezielt betriebenen, rufschädigenden Sensationsjournalismus und kalkulierte Tatsachenverdrehung in den »wichtigsten Organen der britischen und weltweiten Presse«.
 
Die Unterdrückung von negativen wissenschaftlichen Ergebnissen, eigene Produkte betreffend, betreibe vor allem die pharmazeutische Industrie. Crouch führt überzeugende Beispiele an, und auch der Versuch, im Lebensmittelbereich per Patentierung etwa bei gentechnisch verändertem Saatgut eine marktbestimmende Position zu ergattern, führt das Prinzip Marktwirtschaft nur noch ad absurdum, nicht zuletzt auch der skurrile Versuch der US-Firma RiceTec, sich den Begriff ›Basmati-Reis‹ patentieren zu lassen.
 
Öffentlicher Dienst

Die als ›New Public Management‹ angepriesene marktaffine Umgestaltung – auch »Privatisierung« bzw. »Deregulierung« – des öffentlichen Dienstes führte in Großbritannien zu weitreichenden Veränderungen, immer unter der neoliberalen Prämisse, dass finanzieller Anreiz die zentrale Motivation zur Arbeit liefere, das Arbeitsethos des Lehrpersonals sei demgegenüber absolut nachrangig.
 
Crouchs Beispiele aus dem englischen Schulwesen, das mittels Privatisierungen, Ranking und Testverfahren den Marktbedingungen angepasst wurde, sind haarsträubend, ebenso die Beispiele aus den Universitäten, die mittels Zielvorgaben und Kennziffern zwecks Evaluierung akademischer Forschung marktgerecht ›reformiert‹ wurden.
 
| WOLF SENFF
 
Titelangaben
Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht
(The Knowledge Corruptors. Hidden Consequences of the Financial Takeover of Public Life. Cambridge 2015. Übersetzt von Frank Jakubzik)
Berlin: Suhrkamp 2015
250 Seiten, 21,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der durch die Hölle ging

Nächster Artikel

Mit dem Apparat die sogenannte Ewigkeit erfassen

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Herr Maurer macht sich Sorgen

Gesellschaft | Marco Maurer: Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet Bildung als beste Chance zum Aufstieg, sozial, ökonomisch, gleich, von welchem Ausgangspunkt, gilt als gesellschaftlicher Konsens. Die sogenannte Bildungsdebatte entlarvt das als Mythos, solange es die Debatte gibt, und sie hat wirklich Jahrzehnte auf dem Buckel. Marco Maurer, um einiges jünger als die Debatte, hat die Legende nun auch entdeckt. Sie macht ihm gewaltig Sorgen. Nicht nur der Bildung wegen, das ist ihm zu wenig, sondern gleich wegen der Demokratie überhaupt. Von MAGALI HEISSLER

Sie sind viele, sagt sie

Sachbuch | Millay Hyatt: Ungestillte Sehnsucht

»Wir sind viele« – so beginnt das Sachbuch ›Ungestillte Sehnsucht‹ von Millay Hyatt, das den Kinderwunsch ungewollt kinderloser Paare betrachtet. Es ist eine tendenziell politische Aussage, weil sich darin die Forderung nach mehr Aufmerksamkeit widerspiegelt. Dieses Schicksal sei nicht nur hart, es treffe auch mehr als man denkt. Von BASTIAN BUCHTALECK

Ein urteilsfähiges Publikum

Gesellschaft | Ulrich Teusch: Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten Beweise. Hm. Fakten. Was ist das? Wir stecken mittendrin in einer Transformation der Presse, und diejenigen, die am lautesten über postfaktische Erscheinungen klagen, sind mittenmang dabei, die Brandstifter rufen nach Feuerwehr. Von WOLF SENFF

Selbstliebe wird überbewertet

Gesellschaft| Wilhelm Schmid: Selbstfreundschaft Wie kann der Mensch selbstbewusst auftreten und zu sich stehen, ohne in Narzissmus zu verfallen? Zehn Schritte zur Selbstfreundschaft und auf diese Weise »das schönste Leben zu führen«. Von MONA KAMPE

West-Ost-Wanderer

Gesellschaft | Peter Köpf: Wo ist Lieutenant Adkins? Von Wolf Biermann weiß man es und von Frau Merkels Eltern, ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR werden sich auch an Dean Reed erinnern. Es gab nicht nur die Massenflucht aus der DDR nach Westen, es gab immer auch, wenn auch viel bescheidener, eine West-Ost-Wanderung in die DDR mit dem Ziel der Niederlassung. Auf West-Ost-Wanderer der besonderen Art macht Peter Köpfs Buch Wo ist Lieutenant Adkins? aufmerksam. Von PETER BLASTENBREI