Gesellschaft | Thomas Kistner: Schuss
Im Fußball geht es derzeit hoch her, und es gibt eine Menge Themen, die die Öffentlichkeit interessieren dürften. Das Doping gehört zweifellos dazu, es schwelt dauerhaft und flammt gelegentlich immer mal wieder auf. Beide Seiten rüsten auf; die einen, um aufzuklären, die anderen um den Teppich drüber zu halten. Es läuft darauf hinaus, dem Publikum vorzugaukeln, dass alles in Ordnung sei, fernsehgerecht. Von WOLF SENFF
Wussten Sie, dass unsere ›Helden von Bern‹, behandelt mit Injektionen aus der Mehrwegspritze, einer nach dem anderen Symptome einer Hepatitis-Infektionen zeigten? Acht Spieler mussten sich wenige Monate nach dem WM-Triumph zur Kur einweisen lassen, darunter die Brüder Walter, Helmut Rahn und Max Morlock.
Gold gegen Leben
Der Stürmer Richard Herrmann starb neununddreißigjährig an Leberzirrhose, mehr oder weniger die gesamte Nationalelf trug Leberschädigungen davon. Die bitterböse Kehrseite. Dass man im Sportteil davon gelesen hätte? Oder bei den Großbuchstabengazetten? Undenkbar.
Die Pharmazie, wie jeder weiß, bringt gern immer wieder neue Produkte unter die Leute, und wieder neue. Einer Untersuchung zufolge sind rund die Hälfte der Spitzensportler bereit, innerhalb von fünf Jahren zu sterben, sofern ihnen eine bestimmte Droge den Gewinn einer Goldmedaille sichert – in den Fünfzigern war’s Pervitin, in den Achtzigern Captagon, seit den Neunzigern dann Epo.
Gefährdete Teenies
Soll’s einem egal sein, wie die Leute ihre Gesundheit schädigen? Die einen saufen halt komamäßig, hat ja auch mit Hochleistung zu tun, in gewisser Weise. Nur dass die dabei nicht im Fernsehen auftreten und als Helden inszeniert werden wie die Balltreter. Wenn ein Spiel verloren wird wie jüngst gegen Irland, lag das womöglich weniger an den Spielern als daran, dass keine Droge zum Einsatz kam. Nein, wundern Sie sich nicht über solch einen Satz. Wer diese Publikation von Thomas Kistner liest, eignet sich einen völlig anderen Blickwinkel auf den Fußballsport an, bei Hochleistung ist immer Pharma im Spiel.
Nein, egal kann uns das nicht sein. Eine andere Studie zeigt, dass »jeder dritte Teenager bereit ist, illegale Drogen zu nehmen, wenn er damit Erfolg in der Fußballwelt hat. Noch verstörender ist, dass zehn Prozent bereit sind, für den Dopinggebrauch zu sterben, nur um so zu sein wie ihre Sportidole«. Es gehört zu den Pflichten des Staates, die Jugendlichen vor derartigen ›Vorbildern‹ mitsamt den dahinterstehenden Geschäftsinteressen zu schützen. Tut er’s?
Doping paradox
Wer Kistners Publikation liest, sieht diese dringende Notwendigkeit. Thomas Kistner trägt so unglaubliche Details zusammen, dass man sich entsetzt fragt, welchen Zwecken eigentlich unsere »Medienlandschaft« dient. Ist sie vielleicht selbst der Teppich, unter den all der Dreck gekehrt wird? Gut, gut, keine Panik.
Anfang der Nuller dann Nandrolon, und Ende 2001 war es der seinerzeit aktive Spieler Josep ›Pep‹ Guardiola, der zweimal positiv getestet und für vier Monate gesperrt wurde. Viele andere Namen: Diego Maradona, Zinedine Zidane, Karim Benzema, Ronaldo, ein Kurhotel als Klinik in Meran – eine global prächtig organisierte Szene, so prächtig organisiert, dass im WM-Achtelfinale zwischen Brasilien und Argentiniern gewissermaßen ein Doping paradox stattfand. In einer Verletzungsunterbrechung bei Temperaturen von vierzig Grad bot der argentinische Coach einem brasilianischen Verteidiger erfrischendes Wasser an, dem zuvor Rohypnol beigegeben wurde – der Verteidiger, so berichtete Diego Maradona, »traf keinen Ball mehr«.
Weltmeister werden
Thomas Kistner legt eine Fleißarbeit vor, vielfältige Details, überzeugender kann eine Indizienkette nicht sein; und er bezieht sich auf von aktiven Spielern nach Ende ihrer Karriere publizierte Biografien, zum Beispiel von Toni Schumacher, von Diego Maradona; er verweist auf berüchtigte Ärzte: den Italiener Michele Ferrari, der außer mit Lance Armstrong auch mit Zinedine Zidane und Didier Deschamps in Verbindung stand, den Deutschen Armin Klümper, den Spanier Eufemiano Fuentes.
Für die Niederlage Brasiliens im WM-Finale 1998 bietet sich eine profane Erklärung an, weitab von Taktikfachsimpelei. Wenige Stunden vor Spielbeginn erlitt Ronaldo einen fast tödlichen Kollaps, sodass er am Spiel lediglich als »Spaziergänger« teilgenommen habe, was in Brasilien einen Eklat auslöste mit dem leider üblichen Ausgang, dass die Oligarchen und ihre Kreise nichts erschüttert.
Ausgefuchst
Bei der Lektüre entsteht nach und nach ein Gefühl für den Hautgout, für eine Spur, so die bis zum Halbfinale der EM 2008 frappierenden Energieleistungen der von Guus Hiddink trainierten russischen Mannschaft, der Sbornaja, die dann gegen Spanien im Halbfinale völlig abstürzte, wofür es »kaum eine schlüssige Erklärung« gab.
Bezüglich der WM sei nach 2006, als die spanischen Verstrickungen um den Doping-Arzt Fuentes zutage traten, jede unabhängige Doping-Kontrolle dadurch gestoppt worden, dass die FIFA selbst kontrollierte, und so ergab es sich, dass folglich alle Doping-Tests negativ waren. Die Situation zurzeit sei so, dass Doping aufgrund der aufgefuchsten Anwendungsstrategien in den seltensten Fällen nachweisbar sei.
Hochleistungsgesellschaft
Eine zusätzliche Gefährdung der Spieler sieht Thomas Kistner darin, dass die Genesungsdauer durch pharmazeutische Hilfsmittel künstlich reduziert werde. Es gehe um das Ausschalten des Schmerzempfindens, sodass ein Spieler frühzeitig, »schmerzfrei«, trainieren und eingesetzt werden könne. Cortison beispielsweise sei besonders in der Schmerzbekämpfung hochwirksam, weiche aber gleichzeitig das Gewebe auf und könne wiederholte Bänderrisse wie im Fall Thiago Alcantaras verursachen.
Das Schmerzempfinden ist ein schützender Impuls des Körpers, der vor weiterer Belastung warnt; wer diesen Effekt mit pharmazeutischen Mitteln ausschalte, nehme eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung in Kauf. Weshalb all das? Hochleistungsgesellschaft? Eigendynamik des Fußball-»Geschäfts«? Es gibt bei den Balltretern weit mehr zurechtzurücken als die Korruption in den Verbänden.
Titelangaben
Thomas Kistner, Schuss. Die geheime Doping-Geschichte des Fußballs
München: Droemer 2015
400 Seiten, 19,99 Euro
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