Prosa | Hanns-Josef Ortheil: Was ich liebe und was nicht
Ein großer Flaneur und Fabulierer öffnet sein Innenleben, gesteht seine Neigungen und Sympathien, sein Missfallen und Widerstreben. Hanns-Josef Ortheils vielgestaltiger Essayband ›Was ich liebe und was nicht‹ verbindet unterschiedliche Ausdrucksformen mit scheinbar alltäglichen Themen, leicht, schwebend, unterlegt mit einer guten Prise Selbstironie. Von INGEBORG JAISER
Nun erhält Ortheil, als einer der »vielseitigsten, bildungsfreudigsten deutschen Schriftsteller überhaupt« den Hannelore-Greve-Literaturpreis der Hamburger Autorenvereinigung.
›Was ich liebe und was nicht‹ klingt fürs Erste nach profanen Auflistungen und kann doch in ein lebenslanges Großprojekt umfassender Selbstbefragung und autobiographischer Betrachtung münden, so wie bei Hanns-Josef Ortheil. Ist der Autor nicht ohnehin ein Meister der introspektiven Lebensbeschreibung? Nach einer Reihe von Werken mit vornehmlich autobiographischem Hintergrund – angefangen von ›Der Erfindung des Lebens‹ (2009) über ›Die Moselreise‹ (2010) bis zu ›Der Stift und das Papier‹ (2015) – erschien nun termingerecht zum 65. Geburtstag des hochproduktiven Schriftstellers ein Buch über seine literarisch-philosophische Lebenskunst. Ganz im Sinne klassischer Vorbilder wie den ›Confessiones‹ des Augustinus oder den Plinius-Briefen oder Sei Shōnagons ›Kopfkissenbuch‹. Auch Roland Barthes und Walter Benjamin standen ganz offensichtlich mit ihren Werken Pate.
Museumsbesuche und Modesünden
In achtzehn Kapiteln stellt Ortheil die großen Themen seiner Selbstreflexionen vor: von Wohnen bis Reisen, von Mahlzeiten bis Medien. Aber auch: Musik hören, Filme sehen, Mode. Kleine Fluchten gesellen sich ganz selbstverständlich dazu. Wer auf ein erfülltes, schöpferisches und bewusstes Leben zurückblicken kann, wird gewisse Gewohnheiten, Verhaltensformen, Rituale entwickelt haben – und genau die schildert Ortheil sehr detailgenau und mit Charme, stets ihre Hintergründe und Entwicklungen im Blick. Wieso mag er Zugfahrten, aber keine Flugreisen? Woher stammen seine Vorlieben für Museumsbesuche, für Bücherlesen neben den Mahlzeiten und Scarlatti-Sonaten beim Schreiben?
Seine Abneigungen gegenüber Telefonaten, Frühstücksbüffets und »Schals, die von Männern ab einem bestimmten Alter nicht unter dem Mantel, sondern offen um den Hals getragen werden«? Voyeuristisch könnte es im Kapitel ›Schriftstellerleben‹ werden, doch Ortheil begegnet den Erwartungen mit Selbstironie: »Für die meisten öffentlichen Auftritte und Lesungen benötige ich einen Panzer, den ich mir mit Hilfe von guten Speisen und noch besserem Wein zulege. Ich soll barock und doch geistesgegenwärtig erscheinen und mit mindestens einer Leserin nach der Lesung die Nacht im Hotel Strotzender Ochs verbringen.«
Interviews im Andy Warhol-Style
In seiner Schilderung verdichteter Lebensmomente benutzt Ortheil ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Ausdrucksformen: Reflexionen, Erinnerungen, Listen, essayistische Betrachtungen, fiktive Dialoge, kurze Gedichte aus der Kindheit, Ausblicke auf zukünftige Vorhaben und Pläne. Das ist mal tiefschürfend, oft heiter bis hymnisch, zuweilen kurios und herrlich albern (wie »O-Ton Telefon-Interview im Andy Warhol-Style« oder eine ganze Serie von abstrusen »Vorschlägen für gute Liebesromane«). Manch illustre Ideen wirken gar nicht so abwegig. Ortheils Traum, auf den Höhen über Stuttgart eine Gartenwirtschaft zu eröffnen, mag man geradezu spontan unterstützen. Denn seine konkrete Beschreibung beendet er augenzwinkernd mit den Zeilen: »Der Herrgott (und ein Mäzen) helfe mir, dass sie zustande kommt.«
Rituale der Ruhe
Viele von Ortheils Passionen haben ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend, manche haben sich erst später entwickelt und verfestigt, wie eine tragende Architektur des Daseins. Seine überbordende Beschreibungslust, seine Ethnographie des scheinbar Alltäglichen wirkt ansteckend. Derart inspiriert begibt man sich nach der Lektüre unwillkürlich auf Spurensuche im eigenen Leben. Da entdecke ich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, Vorlieben und Rituale: morgendliches Alpenpanorama auf 3Sat. Antipasti und Zwischenmahlzeiten. In ein Museum gehen und sich auf der Toilette vor dem Spiegel fotografieren. Beim Friseur hefteweise ›Vogue‹, ›Gala‹, ›Cosmopolitan‹ konsumieren. Nicht zuletzt: allein sein. Gerne mit diesem Buch!
Titelangaben
Hanns-Josef Ortheil: Was ich liebe und was nicht
München: Luchterhand, 2016
363 Seiten. 23,00 Euro
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