Schicht im Schacht

Roman | Martin Becker: Marschmusik

Man greift zu diesem Buch und ist gelinde irritiert: Steht das Cover mit dem stilisierten Förderturm der Zeche Zollverein nicht in merkwürdigem Kontrast zum Buchtitel? Was sucht die ›Marschmusik‹ im Ruhrpott? Der kursiv gesetzte Titel überm kantigen Logo? Martin Becker löst die Fragezeichen auf und präsentiert einen modernen Heimat- und Ruhrgebietsroman. Der ist anrührend und aufwühlend, witzig und warmherzig zugleich. Von INGEBORG JAISER

Becker_M Marschmusik Zu den beliebtesten Motiven der Weltliteratur gehört die Rückkehr des Auswanderers, einberufen durch einen Unglücks-, Krankheits-, Todesfall – oder schlichtweg durch Heimweh. Selten ist das Nachhausekommen von purer Freude geprägt, oft von Beklemmung und schmerzlichen Erinnerungen überschattet, sehr zwiespältig und ambivalent.

Oder, wie es Martin Becker beschreibt: »Ich habe es mir nicht ausgesucht. Ich bin hier geboren. Ich verfluche dieses Stück Erde nicht, im Gegenteil, ich mag es hier, und anstelle von Wut und Zorn oder Gleichgültigkeit empfinde ich vor allem Melancholie, Herzschwere, wenn ich ankomme, wenn ich wegfahre, ich würde mir das selbst gern erklären, aber ich kann es nicht.«

Weg vom Fenster

Längst hat der Ich-Erzähler aus Beckers neuestem Roman Marschmusik den Absprung geschafft – und kehrt doch immer wieder für einige Tage in die Heimat zurück, in die provinzielle Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets, in das bescheidene, sanierungsbedürftige Reihenmittelhaus, das dem kleinen Jungen einst riesig wie ein Palast erschien und dann mit wachsendem Alter immer mehr schrumpfte.

Hier verlieren sich die Spuren zweier Erwerbsleben, dreier Kinder, einer halben Million Zigaretten und hektoliterweise Schnaps. Was bleibt: »Eine kurze Geschichte der proletarischen Reihenhausfamilie des späten 20. Jahrhunderts, kurz vor ihrem Untergang, erzählt vom Nikotin höchstpersönlich.«

Der Jupp vom Pütt

Den Vater, einst Malocher und Kohlenhauer, meist ruhig, manchmal jähzornig, hat die lebenslange Schinderei und Qualmerei bereits mit 68 Jahren umgebracht. Die ehemals stattliche Mutter mit kräftiger Dauerwelle und dicker Brille ist vor der Zeit zu einem Schatten ihrer selbst zusammengeschrumpft. Da, wo einst die Essecke war, steht nun ihr Pflegebett. Eine fortschreitende Demenz legt sich gnädig über alle Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche. Das größte Glück ist, wenn der überraschende Besucher zum Eisessen einlädt, zum Einkaufsbummel, zu ein paar gemeinsamen Zigaretten. Doch der heimkehrende Sohn will die drei Tage seines Aufenthalts für eine Spurensuche nutzen, will die letzten Zeugnisse und Fährten sichten, ehe es zu spät ist.

Die Zeit des Kohlebergbaus und der Zechen ist vorüber – und mit ihr scheint auch das restliche Leben zu bröckeln. »Was bleibt denn übrig in dem Augenblick, wo wir begreifen, dass die Familie sich auflöst, mehr noch, dass sie schon längst nicht mehr da ist und nie mehr wiederkommen wird? Was geschieht in dem Augenblick mit uns, da jene Familie verschwindet, und mit ihr die eigene Herkunft, und mit ihr ein ganzes altes Jahrhundert? Der Acker also, auf dem wir gewachsen sind?«

Ausschlaggebend ist ein Brief von Hartmann. Exkollege und einziger Exfreund des Vaters, Sauhund, Säufer, Kleinkrimineller. Hartmann arrangiert ein Treffen und ermöglicht eine beeindruckende Fahrt unter Tage. Hartmann beschwört eine untergegangene Welt herauf, mit ganz eigenem Vokabular: Waschkaue, Arschleder, Geleucht. Und der Sohn vom Jupp ist beeindruckt von der unmenschlichen Maloche, ja geradezu stolz auf den einst so hartgesottenen, wenn auch mundfaulen Vater.

Provinz ist, wo ich bin

Dass der Autor Martin Becker – selbt am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen – hauptsächlich Hörspiele und Features für den Rundfunk erarbeitet, ist seinem Roman Marschmusik auf ganz angenehme Weise anzumerken. Mit wenigen Worten und Sätzen gelingt es ihm, charakteristische Szenen, Stimmungen, Atmosphären einzufangen. Der Vater in Unterhemd und Trainingshose, wie er jeden Samstag am Küchentisch sitzt, Bier und Schnaps trinkt und Rouladen oder Sauerbraten für das Sonntagsessen vorbereitet. Oder wie der Sohn sich mit ehrgeizigem Posaunenspiel einen Weg aus dem mehrfach übertapezierten Jugendzimmer und der miefigen Kleinstadt erträumt, notfalls auch mit Marschmusik.

Becker schafft es auf beeindruckende Weise, das Milieu der kleinen Leute darzustellen, das Lebensgefühl eines ganzen Landstrichs, inklusive Kohlestaub, Schrebergarten, Feierabendbier. Nicht zuletzt ist sein Ruhrgebietsroman auch melancholischer Nachruf und Abgesang auf eine einst prosperierende Region, auf eine endgültig vergangene Epoche. Und man muss selbst nicht vom Ruhrpott kommen, kann auch in Oberfranken oder an der Ostseeküste aufgewachsen sein, um beim Lesen warme Heimatgefühle zu empfinden. Denn letztendlich geht es Becker um ein ganz großes Thema: um das der eigenen Herkunft.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Martin Becker: Marschmusik
München: Luchterhand, 2017
285 Seiten. 18.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gespielte Harmlosigkeit

Nächster Artikel

Ein Leben im Rückspiegel

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Willkommen in der heilen Welt!

Roman | Zoë Beck: Paradise City

Schon Zoë Becks letzter Roman Die Lieferantin (2017) spielte in der Zukunft. In einem düster ausgemalten Post-Brexit-England verdarb darin eine findige Online-Unternehmerin mit revolutionären Bestell- und Vertriebsmethoden der Londoner Unterwelt ihr profitables Drogengeschäft. Das kulminierte letzten Endes in einer Regierungskrise und blutigen Straßenkrawallen. Im Großbritannien der »Lieferantin« Ellie Johnson wimmelte es von gewaltbereiten Nationalisten und in die allgemeine Überwachung jedes Einzelnen war ganz selbstverständlich auch dessen Gesundheit einbezogen. Letztere rückt nun, in Paradise City, noch mehr in den Mittelpunkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Genie als hilfloser Greis

Roman | Peter Härtling: Verdi »Ich hatte nicht vor, eine Biografie zu schreiben. Es ging mir nicht darum, das Leben Verdis zu erzählen, Daten und Werke einzusammeln. Der Untertitel nennt neun Fantasien. Verdi hat nie eine geschrieben. Eine Fantasie folgt Motiven, Stimmungen. Es ist eine dem Alter angemessene Form. Ich nähere mich an Jahren dem Verdi, und ich wünschte mir waghalsig einen Austausch der Erfahrungen«, schreibt Peter Härtling in seiner dem Buch vorangestellten Kopfnote. Der neue Roman ›Verdi‹ – gelesen von PETER MOHR

Porträtist des Todes

Roman | Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht

»Er ging schonungslos mit seinem Leben um und liebte nichts und niemanden«, heißt es vollends zutreffend über die durch und durch unsympathisch gezeichnete Hauptfigur Kristian Hadeland in Karl Ove Knausgårds neuem Roman Die Schule der Nacht. Von PETER MOHR

Mit den Worten spielen

Roman | Annette Pehnt: Alles was sie sehen ist neu

»Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.« Dieses auf Matthias Claudius zurück gehende Sprichwort ließe sich äußerst treffend als Leitmotiv dem neuen Roman Alles was sie sehen ist neu der seit fast 30 Jahren in Freiburg lebenden Annette Pehnt voran stellen, die kürzlich den mit 111 Flaschen Riesling und 11111 Euro dotierten Rheingau Literaturpreis erhalten hat. Von PETER MOHR

Feindliche Übernahme

Roman | Dominique Manotti: Kesseltreiben Dominique Manotti gilt als Expertin in Wirtschaftsfragen. Und, weil sich in ihren Romanen profundes ökonomisches Wissen, ein wiedererkennbarer Individualstil und das Gespür für spannende Plots verbinden, auch als eine der besten und aufregendsten Thrillerautorinnen, die Europa zurzeit hat. Von DIETMAR JACOBSEN