//

Das Selfie entert das Theater

Bühne | Die Stadt der Blinden: Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Die Romanvorlage zeichnet das Szenario einer Seuche, einer gefährlichen plötzlichen Erblindung, die auf Infektion zurückzuführen ist. Für die erblindeten Opfer ist ein separates, umzäuntes Lager eingerichtet, zur Außenwelt besteht Kontaktverbot. Von WOLF SENFF

Die Stadt der Blinden - Foto © Marcel UrlaubDas wäre eine faszinierende Ausgangssituation für eine ergreifende Handlung. Doch das vielversprechend zarte Pflänzchen wird in der Inszenierung des Deutschen Schauspielhauses unter der Regie von Kay Voges kurzerhand, konsequent und verblüffend kaltblütig plattgewalzt, man fühlt sich an Reality-TV erinnert, erste Zuschauer verlassen nach einer halben Stunde die Stätte des Grauens und dürfen sich in Rezensionen über die Eskalation in Sex, Blut, Fäkalien informieren.

›Crossover‹

Interessant ist, sich zu fragen, welch diversen Mechanismen hier ihre unangenehme Wirkung entfalten, und es fällt auf Anhieb auf, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile die Praxis der Theater, Prosa zu adaptieren, goutiert wird. In diesem Fall geht das daneben, tüchtig daneben.

Die Ursache dafür ist darin zu sehen, daß das Genre des Romans eine Ansprache an den Leser voraussetzt, die sich weniger an dessen Augen als an dessen Phantasie wendet und die nicht eins zu eins in bildliche Medien übertragbar ist, die Ausgangslage sträubt in diesem Fall heftig sich gegen den Versuch einer visuellen Vereinnahmung. Das verbreitete, gern genutzte ›Crossover‹ von Genres stößt hart an seine eigenen Grenzen.
 
 

Niveau von Selfies

Die Inszenierung beschreitet ihren Irrweg mit vernichtender Konsequenz. Die visuelle Wahrnehmung wird durch parallele Videobegleitung laufend verdoppelt, das verfügbare technische Instrumentarium wird ungehemmt eingesetzt, ohne dass eine intendierte Sinnhaftigkeit nachvollziehbar wäre, Reizüberflutung als Selbstzweck, die Inszenierung wird übergriffig, es gelingt nicht, Romanhandlung ernsthaft und glaubwürdig umzusetzen.

Die Stadt der Blinden - Foto © Marcel Urlaub

Auf der Bühne spielt sich massiv inszenierte Bildlichkeit ab, doch die Emotionen, so angestrengt sie dargeboten werden, erreichen das Publikum nicht, Dialoge kippen über zur Comedy, das Geschehen bleibt oberflächlich. Wir erleben in dieser Inszenierung eine Qualität von Kultur, die sich auf Selfie-Niveau einpendelt.

| WOLF SENFF
| Fotos © MARCEL URLAUB

Titelangaben
Die Stadt der Blinden, nach dem Roman von Jose Saramago
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Kay Voges
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»I will follow me«

Nächster Artikel

Rückbau

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Please no unnecessary drama, baby!

Bühne | Im Porträt: Die Hamburger Regisseurin Denise Stellmann

Die Hamburger Jung-Regisseurin Denise Stellmann ist klein und süß – auf den ersten Blick. Denn sie spricht aus, was viele nicht einmal zu denken wagen. Ein Porträt über ein junges, (bühnen)reifes Leben voller Emotionen jenseits bekannter Künstlerklischees und -attitüden. Denn die Bühnenkunst soll in ihrer Vorstellung vor allem eins: Bewegen. Von MONA KAMPE

Die Welt als Tollhaus

Bühne | Friedrich Dürrenmatts ›Die Physiker‹ – Volkstheater Wien Elias Perrig inszeniert Dürrenmatts ›Physiker‹ am Volkstheater. Ein alles in allem missglückter Versuch, dem Meister der Katastrophe mit humoristischem Vorpostengeplänkel beizukommen – findet ALBERT EIBL

Ein schmaler Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Bühne | Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Deutsches SchauSpielHaus Hamburg Lieben sich Martha und George wirklich? Zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Zuneigung und Hass, perfektem Spiel und schönem Schein, sind sich weder die Protagonisten noch die Besucher sicher, was wirklich auf der Bühne vor sich geht. Von MONA KAMPE

Das Beste zum Schluss

Bühne | Rock-Musical: Hedwig and the Angry Inch Wenn eine Rock-Chanteuse namens Hedwig auf ihrer »Welttournee« immer wieder mit der eigenen, äußerst unliebsamen Vergangenheit konfrontiert wird, kann es durchaus passieren, dass sie selbst in ihren Grundfesten erschüttert wird. Und der Zuschauer gleich mit. In diesem Musical werden nicht nur Musikstile gemixt, nein, es geht auch den Gefühlen des Publikums an den Kragen. ANNA NOAH ist gespannt, ob Hedwig für das nächste neue Leben bereit ist.

Dem »Liebchen« auf der Spur

Bühne | ›Die Entführung aus dem Serail‹ – Theater Pforzheim Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht Protagonistin Konstanze (Franziska Tiedtke) am Bühnenrand. Die Protagonistin mit den schönen blonden Locken singt eine herzzerreißende Arie über ihr Liebesleid. Immer wieder fasst sie sich dabei demonstrativ mit der Hand an die Brust. Hohe und tiefe Töne wechseln sich ab. Die Sehnsucht nach ihrem Geliebten Belmonte (Markus Francke) treibt Konstanze umher. Ihr gegenüber steht Bassa Selim (Sehr attraktiv und hoheitsvoll im schwarzen Jackett auf nackter Brust: Dario Krosely), der ihre Freunde und sie in Gefangenschaft nehmen ließ. Seine Liebe zu Konstanze ist aussichtslos, die der Protagonistin