TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Tiger
Fußball, er hat über Fußball geredet.
Gramner?
Wer sonst?
Fußball? Was soll das sein? Der Ausguck stand auf, reckte die Arme und schlug einen Salto.
Sport, Ausguck.
Nie gehört.
Du solltest häufiger mitkommen, wenn er erzählt, es ist spannend, ihm zuzuhören, jetzt bleibt uns viel Zeit, die Pause dauert noch, Arbeit fällt keine an. Sport ist Körperertüchtigung, Ausguck.
Er wird nur wieder über die Epoche reden, die sich Moderne nennt. Langweilt das nicht?
Das ist nun einmal sein Thema.
Modern – was soll das sein? Eine neue Zeit? Es wird keine neue Zeit geben, Thimbleman, wie soll es eine neue Zeit geben, Gramner macht Streß.
Training, verstehst du, Bewegungsabläufe, die die Muskeln kräftigen. Wettläufe über kurze und über lange Strecken, das ist Sport. Hochsprung, Speerwerfen, Marathonläufe, auf der Großen Mauer wird ein Marathon veranstaltet, auch ein Halbmarathon, noch hält die menschliche Immunabwehr aus.
Mal ehrlich, Thimbleman, was geht mich die Zukunft an, einen Dreck.
Sieh aufmerksam hin, Ausguck, und du erkennst keinen Unterschied zwischen unserer Gegenwart und der fernen Zukunft, sagt Gramner, null, die Dinge ändern sich nicht, verstehst du, alle Bilder sind trügerisch. Beim Fußball, sagt Gramner, gehe es kein bißchen anders zu als bei den Goldgräbern vor den Claims von Frisco, die Ziele seien identisch, und erst wer es zum Millionär gebracht hat, gilt als erfolgreich.
Der Ausguck ging in den Handstand.
Wer als Fußballer Karriere machen wolle, sagte Thimbleman, setze sich schärfster Selektion aus, Kinder und Jugendliche unterwerfen sich gnadenloser Selbstoptimierung, stranden in den Regionalligen und gelangen nicht einmal in Sichtweite der verheißenen Goldtöpfe.
Der Ausguck verlagerte den Körper vorsichtig, langsam, langsam, auf die rechte Hand, er schwankte nicht im geringsten. Er lächelte freundlich.
Auf diese Weise, sage Gramner, verkehre sich das Leben in ein Zerrbild, der Mensch verlange sich Hochleistungen ab, sogar der Balltreter der Champions-League sei in ein Korsett gepreßt aus Ernährungsvorschriften, medizinischer Begleitung, sozialer Kontrolle, verschärft noch unter Covid-19.
Arme Irre, sagte der Ausguck, fehlgeleitete Menschheit. Er löste sich vorsichtig aus dem Handstand, er stellte sich wieder auf, er wirkte sehr konzentriert, er wechselte über zu Übungen aus der ›Tiger‹-Serie, woher hatte er das, die ein hohes Maß an Aufmerksamkeit voraussetzten: ›Hungriger Tiger packt Beute‹, ›Der Tiger kommt aus dem Käfig‹, ›Körperkrümmender Tiger‹, der erneut im Handstand zu leisten war.
Thimbleman sah dem Ausguck fasziniert zu, er hatte sich die ›Tiger‹-Übungen vermutlich von den zwei oder drei Chinesen abgeschaut, die auf der ›Marin‹ unter Termoth segelten.
Er fühle sich wunschlos glücklich in dieser friedlichen Lagune unter subtropischer Sonne, sagte der Ausguck. Ein Idyll. Nicht arbeiten zu müssen, das empfinde er keineswegs als Mangel. Allein der Grauwal, sagte er, der tue ihm leid, welch faszinierendes Wesen, und ausgerechnet den müßten sie zur Strecke bringen, jedesmal sei das ein Blutbad.
Folge man Gramners Worten, sagte Thimbleman, sei der Mensch im Begriff, sich das eigene Grab zu schaufeln. Fußball sei ein geschlossenes System, eine Echokammer, aus der es kein Entrinnen gebe, sage Gramner, aus aller Herren Länder würden Talente in die Metropolen importiert, und alles werde getan, damit das glitzernde mediale Erscheinungsbild nicht angekratzt werde, sie erwägen sogar Geisterspiele.
Entspann dich, unterbrach der Ausguck, immer noch im ›körperkrümmenden Tiger‹, wie hielt er das durch, und wiederholte gequält: Entspann dich, mein Freund.
Thimbleman war erschöpft, er atmete tief und schloß die Augen.
| WOLF SENFF
| TITELFOTO: Weloc, Football (Soccer), CC BY-SA 4.0