//

Leere

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leere

Das Salzmeer, man muß das wissen, ist ein Ort, an dem nichts geschieht, jedenfalls gilt das für das Lager, ich erwähnte es kürzlich, Sie erinnern sich an den latenten Konflikt um die Ventilatoren, und sofern man die touristischen Ambitionen ins Auge faßt, bildet sich eine Paradoxie heraus, die einer ausführlichen Erklärung bedarf, nicht jetzt, nein, ich werde sie zu gegebener Zeit liefern.

Totes MeerFarb war eine der auffälligen Figuren, ein Eigenbrötler, das Lager empfand er als toxisch, man lernte ihn als einen umtriebigen Zeitgenossen kennen, der den Vertrieb und Tausch von Zeitschriften in die Hand nahm, unentgeltlich, und im Lager binnen weniger Tage einen Zirkel an Kundschaft etabliert hatte, feste Kunden, die er auf seinen Rundgängen im Lager aufsuchte, mit denen er ausgiebig plauderte, wohl auch in deren Hotels, und mit jeweils zuletzt gelieferten Exemplaren versorgte.

Hektik, er verbreitete Hektik, das war ein Eindruck, den viele teilten, und wenn nicht anderenorts, so war das am Salzmeer eine läßliche Regung, Farbs unangemessenes Betragen traf den zentralen Nerv jedenfalls des Lagers bzw., in seinen Worten, des Ghettos. Niemand will ihn verurteilen, beileibe nicht, man kann ihn verstehen, seine Freundlichkeit war allgemein geschätzt, seine umgängliche Art, sein überwiegend rücksichtsvolles Wesen.

Doch das Salzmeer, man muß das wissen, ist seit alters her ein Ort des Rückzugs, komplett, eine Zuflucht, ein Refugium vor der Welt, vermutlich galt es deshalb auch im Land selbst unverrückbar als ein geschätzter Ort der Erholung, die Zusammenhänge sind kompliziert, ich erwähnte die Hotels. Farb konnte sich dem nicht entziehen, zumal auch der Charakter des Lagers selbst nicht eben nach Aufmerksamkeit heischte, ich erwähnte, daß es von einer mannshohen Schutzplane umgeben war, orangefarben und das Gelände herauslösend aus täglichen Geschäftigkeiten und etwaigen touristischen Belangen.

Da fällt dann doch jemand wie Farb, so sympathisch uns sein Auftreten erscheinen mag, komplett heraus, und es gibt immer mal wieder ähnliche Figuren, ich erwähnte das Trio, das aus New York angereist kam, oder den zwielichtigen Herrn aus Wien mit den zwei glamourösen Damen, denen Vladimir vor Petra begegnete, ich erinnere auch an Sergej aus Murmansk, ich komme darauf zurück, oder jenen eiligen Jugendlichen, der häufiger mit Kopfhörer auf dem Rundkurs war als auf seiner Liege und von dem nach nur wenigen Tagen nichts mehr zu vernehmen war, es ist doch einfach so, daß am Salzmeer, vor allem aber im Lager der Hunger nach Aufmerksamkeit keine Nahrung findet.

Die Männer hatten keinen Anlaß, um Aufmerksamkeit zu buhlen, sie waren gewissermaßen Patienten und hofften sich in dieser Umgebung von den Auffälligkeiten ihrer Haut zu befreien, man muß das verstehen, für ihre Neurodermitis oder ihre Psoriasis war Nichtstun angesagt, anstrengendes Nichtstun, denn sie hatten ihren Organismus an nichts anderes als an das Klima zu gewöhnen, so daß sie sich nach Ablauf weniger Tage unbesorgt fünf bis sechs Stunden im Lager aufhielten, die Temperaturen waren nun einmal gewöhnungsbedürftig.

Die Dänen, ich erwähnte es, waren sogar von einer Schwester begleitet, die sie beim Nichtstun zu beaufsichtigen hatte, sie deshalb jeweils am Vormittag im Lager aufsuchte und sie bei Bedarf mit einer Fettcreme versorgte, eine Fettcreme ist völlig ausreichend als Behandlung, Vladimir kaufte im Zentrum hundertfünfzig Gramm Vaseline und ließ es gut sein, jede zusätzliche medizinische Aufrüstung, so gut sie gemeint sein mochte, konnte vernachlässigt werden.

Jemand wie Farb, man kann das nicht anders sagen, und Sie werden es längst bemerkt haben, er war einfach hyperaktiv, war für einen derartigen Aufenthalt nicht geschaffen, es sei denn er spränge über seinen eigenen Schatten, und wem gelänge das schon.

Es gab die Sitte, sich Bewegung zu verschaffen, indem man den Rundkurs entlangging, das war gut für den Kreislauf und wurde sehr empfohlen, der Kurs war nicht ausgeschildert, weshalb auch, der Pfad war ausgetreten, jeder vermied sorgsam, ihn mit seiner Liege zu verstellen, und meistens sah man zwei oder drei Männer auf dem Weg, nicht während der Mittagsstunden, das ist klar, und Farb hatte sich angewöhnt, auf diesem Rundkurs Station zu machen und zu plaudern, belangloses Zeug, worüber sollte einer unter diesen Umständen auch ernsthaft reden, nein, ich will das gar nicht abwerten, keinesfalls, denn auf diese Weise gewann Farb den Kundenkreis für seine Zeitschriften, nein, Bücher vertrieb er nicht, wer käme auch auf die Idee, im Lager ein Buch zu lesen, unmöglich, und Farb hatte sich einen Status erkämpft, immerhin, das mußte man neidlos anerkennen.

| WOLF SENFF

Weiterlesen
TITEL-Textfeld: Dilettantismus

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Streifzug mit royaler Begleitung

Nächster Artikel

Ganz ohne Worte

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kultur II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kultur II

Alles, was recht sei, sagte Farb, aber das halte er doch für weit hergeholt.

Er verstehe nicht genug, um sich ein Urteil zu bilden, sagte Wette, doch ja, er habe Gemälde gesehen, etwa auf einer Ausstellung in Zürich, Museum Riedberg, eindrucksvoll, sicher, aber er sei da auch lieber vorsichtig, nein, er wolle sich nicht aus dem Fenster lehnen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Farb strich sie langsam und sorgfältig glatt.

Unvergleichlich, heiße es, und daß man gar von einer der wenigen bedeutenden Hinterlassenschaften menschlicher Kultur rede, sagte Farb, das scheine ihm doch alles etwas voreilig.

Desillusioniert, nicht verbittert

Kurzprosa | Helga Schütz: Die Kirschendiebin Helga Schütz, die Anfang Oktober ihren 80. Geburtstag feierte, hat sich seit Jahr und Tag als poetische Dokumentaristin des ostdeutschen Alltags einen Namen gemacht. Äußerst subtil hat sie in ihren Romanen (angefangen mit ›In Annas Namen‹, 1986) darüber hinaus ihre eigene Biografie eingeflochten. An dieser bewährten Konzeption hat die in Niederschlesien geborene und später in der DDR lebende Autorin auch in ihrem aktuellen Erzählwerk ›Die Kirschendiebin‹ festgehalten. Von PETER MOHR

Wunderkinder

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wunderkinder

Eldins Schulter?

Kein Ende in Sichtweite.

Kann folglich noch dauern. Scammon?

Hockt achtern in seiner Kajüte über seinen Aufzeichnungen.

Läßt sich nicht blicken?

Läßt sich nicht blicken.

Der Ausguck nickte und ging in den Handstand. Thimbleman ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er applaudierte.

Ferne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flamme schlug hoch.

Seit wann reden wir denn über Krankheiten, fragte Crockeye irritiert, wir haben Verletzungen davongetragen, aber niemand sei krank.

Ein Walfänger, bekräftigte Pirelli, kenne keine Krankheit.

straßbesetzt

Kurzgeschichte | Jürgen Landt: straßbesetzt angela merkel hatte sich in mich verliebt. der wahlkampf war schon zu ende. dennoch standen genügend öffentliche auftritte an. manchmal hielt ich mich etwas abseits, oftmals war ich direkt an ihrer seite. oftmals trug ich mein langes gelichtetes weißes haar mit einer klammer zusammengekniffen, manchmal ließ ich es einfach offen hängen.