//

Renaissance

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Renaissance

Die länger als drei Jahrtausende bestehende Kultur teilt sich historisch in mehrere Abschnitte.

Wieder Ägypten, stöhnte Farb.

Das lasse ihn nicht los, sagte Anne.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Und sei brandaktuell, ergänzte sie, ihn beschäftigt die Saitenzeit des siebenten und sechsten Jahrhunderts, ein Abschnitt der Spätzeit und der Renaissance des Altertums.

Tilman lächelte.

Klar, ihr wißt es, sagte er, es geht um die sechsundzwanzigste Dynastie.

Als hörten wir das zum erstenmal, sagte Anne.

Farb schlug die Beine übereinander und blätterte in einem Reisemagazin.

Tilman schenkte Tee nach.

Anne nahm ein Kipferl.

Die Modelle der Vergangenheit wurden für die Eliten der Oberschicht ein Vorbild, ein unumstößlicher Maßstab, Ägypten entdeckte sein eigenes Altertum,  nein, bislang hatte Geschichte für sie keine Rolle gespielt, nun aber besuchten und kopierten sie die Denkmäler der Vorfahren, verwendeten uralte Pyramidentexte für die Grab- und Sargbeschriftung und legten sich Namen zu, die an Namen des Alten Reichs anklangen, stellten sich in dessen Stil und Tracht dar – wie es scheint, summierten sich viele Details zu einer umfassenden kulturellen Revolution, zum ersten Mal wandten sie sich der eigenen Vergangenheit zu, das ist die tiefgreifende Veränderung, aus dem Grab der Königin Hatschepsut wurde eine komplette Wand kopiert, und auch einige andere Stücke sind so akribisch nachgestellt, daß die Archäologen unserer Tage nicht einig werden, ob sie in die sechsundzwanzigste, in die zwölfte oder vielleicht in die achtzehnte Dynastie zu datieren seien.

Abenteuerlich, sagte Farb, eine Vergangenheit werde inszeniert, eine kulturelle Maskerade gefeiert, eine Ägyptomanie entfacht.

So führe man Kampagnen, spottete Anne, das grenze an Hysterie, es sei irreführend.

Wir dürfen die Dinge nicht mißverstehen, wandte Tilman ein, diese Renaissance habe vielerlei Aspekte, und es wäre fahrlässig und einseitig, sie herablassend zu werten, von einem überheblichen, vermeintlich höher entwickelten Niveau unseres Jahrhunderts. Das gehe auf keinen Fall, fügte er hinzu.

Ertappt, räumte Anne lächelnd ein.

Ob man es anders sehen könne, fragte zweifelnd Farb.

Ein Rettungsanker, überlegte Anke.

Mehr als nur ein Rettungsanker, bekräftigte Tilman. Die Oberschicht – und es betreffe stets die Oberschicht, denn über das einfache Leben sei nichts überliefert – sei von einer tiefen Sehnsucht erfaßt, das Land sei nach persischer und griechischer Fremdherrschaft erschöpft gewesen, nach der lange anhaltenden Teilung und der Zersplitterung unter den libyschen Herren, und es sei die sechsundzwanzigste Dynastie, in der eine Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter sich Bahn breche.

Ob es nicht doch ein simples Narrativ sei, und es gäbe eh nichts Neues unter der Sonne, fragte Farb.

Die Meinung mag man vertreten, konzedierte Tilman, aber sie werde der Vielfalt nicht gerecht.

Sie sei plakativ, räumte Anne ein.

Die Aufmerksamkeit auf die eigene Vergangenheit zu wenden, sei damals ein fundamentaler Kulturbruch gewesen, man könne das nicht oft genug betonen, das Alte Ägypten weise einen harschen Kontrast zu unserer Gegenwart auf.

Was wir daraus lernen, fragte Anne.

Die Moderne steuere auf eine Sackgasse zu, und wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um dazuzulernen, die ägyptische Kultur sei unvergleichlich.

Farb fand das übertrieben, Tilman steigere sich da in etwas hinein, glaubte er, was solle das denn heißen: unvergleichlich. Er schenkte sich Tee nach.

Anders als die Erlöserreligionen, erklärte Tilman.

Erlöserreligionen, fragte Farb.

Religonen, in denen ein Erlöser auftritt, sagte Anne, zum Beispiel das Christentum.

Das Alte Ägypten strebte nicht danach, erlöst zu werden, sagte Tilman, wovon denn auch, sondern sah als seine Aufgabe an, an der Welt teilnehmend aktiv zu sein, sie mithilfe ritueller Abläufe und an der Seite der Götter in Gang zu halten, und pflegte das Land als den Tempel der Welt, als den Wohnsitz der Götter.

Farb fand das übertrieben.

Die Renaissance als allerletzter Halt, ein Hauch von Nostalgie, und die Sorge wuchs, mit einem Nachlassen und einem Ende der Kulte werde eine Trennung von Göttern und Menschen eintreten, unüberbrückbar, der Untergang der ägyptischen Welt, endgültig, ein für allemal, unwiederbringlich.

Welch beschwörender Tonfall, Farb blieb skeptisch, Tilman halte wenig Distanz zu diesen Dingen.

Die Gottheit mit frommem Herzen und unablässiger Hingabe zu verehren, damit die Welt bewohnbar bleibe – vergeblich, nun brächen andere Zeiten an, die Gottheit werde von der Erde wieder zum Himmel aufsteigen, zurück, und Ägypten: verlassen, der göttlichen Nähe beraubt.

Farb schlug die Beine übereinander und blätterte gelangweilt in seinem Reisemagazin.

Tilman schenkte Tee nach.

Anne nahm ein Kipferl.

Von der ägyptischen Religion werden Fabeln übrigbleiben und beschriftete Steine, die Menschen werden des Lebens überdrüssig sein, sie werden aufhören, den Kosmos zu bewundern und zu verehren, niemand werde seine Augen zum Himmel erheben, den Frommen werde man für verrückt halten, den Gottlosen für weise und den Bösen für gut, die Erde werde nicht länger fest sein und die Meere nicht schiffbar, der Himmel werde die Sterne nicht in ihren Umläufen halten.

Farb gähnte, der Duktus war ihm um einige Lagen zu pastoral.

Anne schenkte Tee nach.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Reisen. Schreiben. Essen.

Nächster Artikel

Patchworkfamilie mit Hindernissen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Arm und reich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Arm und reich

Nach wie vor tobt der Klassenkampf der Krösusse gegen die Mittellosen.

Warren Buffet.

Unter der Oberfläche und nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar, doch desto erbarmungsloser, Hunger ist eine hochwirksame Waffe, die Opfer gehen in die Millionen.

Das kümmert unsere Krösusse nicht.

Es kommt ihnen entgegen, und seit neuestem, las ich vor einigen Tagen, errichten sie ihre eigenen exklusiven Städte.

Ein X oder ein U

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ein X oder ein U

Wenn nichts sonst, sagte Gramner, so müsse man doch das Ausmaß an Selbsttäuschung schätzen, zu dem der Mensch fähig sei.

Ein Scherz, sagte der Ausguck und lachte lauthals, er war guter Stimmung und hatte Lust, einen Salto zu schlagen.

Harmat blickte verständnislos.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Touste hielt die Augen geschlossen und träumte.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Zustände

TITEL-Textfeld| Wolf Senff: Zustände

Und, fragte Farb.

Er sei gespannt zu hören, sagte Wette, wie ein Außenstehender die Welt der Moderne wahrnehme.

Er habe sich während der vergangenen Tage umgetan, sagte Ramses, und nein, er sei erschrocken, die Zustände seien nicht erfreulich.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Wette nahm sich einen Marmorkeks.

Nicht erfreulich, wiederholte Ramses, das beginne mit dem herrschenden Personal.

Alle Jahre wieder

Kurzprosa | Literaturkalender 2025

Für die einen sind sie Zeitplaner und Taktgeber, für die anderen farbenprächtiger Wandschmuck oder tägliche Quelle der Inspiration und der (Wieder-)Entdeckungen: Literaturkalender. Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken, wärmt ein poetischer Ausblick Geist und Herz. Nicht nur INGEBORG JAISER freut sich auf das kommende Jahr.