Eine Menschenjagd in der Neuen Welt

Roman | Robert Harris: Königsmörder

Am 30. Januar 1649 wurde König Karl I. aus dem Hause Stuart, nachdem er am Ende eines siebentägigen Prozesses zum Tode verurteilt worden war, in London öffentlich enthauptet. 59 Mitglieder des über ihn zu Gericht sitzenden High Court of Justice unterzeichneten das Urteil. Mit der Hinrichtung des 48-jährigen begann für England eine elf Jahre andauernde republikanische Phase, ehe Karls Sohn Karl II. 1860 die Monarchie restaurierte. In der Folgezeit blies man zur Jagd auf die 59 »Königsmörder«. Zwei von ihnen, Edward Whalley und William Goffe, hatten sich über den Atlantik nach Neuengland abgesetzt. Ihrem Schicksal spürt in einer raffinierten Mischung aus Geschichte und Fiktion der neue Roman von Robert Harris nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Richard Nayler hat nicht existiert. Er »musste erfunden werden«, wie Robert Harris (Jahrgang 1957) in seiner kurzen Vorbemerkung zu seinem neuen Roman Königsmörder betont, denn »keine Menschenjagd ohne einen Menschenjäger«. Nahezu alle anderen auftretenden Figuren – Harris zählt die wichtigsten in einem dreiseitigen, dem Buch zur Erleichterung des Handlungsverständnisses vorangestellten Personenverzeichnis auf – sind historisch verbürgt. Letzteres gilt auch für die Schauplätze und – bis auf den Schluss des Romans, der in der Realität wohl eine deutlich prosaischere Dimension besaß – Ereignisse, die auf den knapp fünfeinhalbhundert Seiten beschrieben werden.

Raffinierter Mix aus Geschichte und Fiktion

Harris entführt seine Lesergemeinde diesmal, nachdem es zuletzt in die finalen Monate des Zweiten Weltkriegs und in eine postapokalyptische Zukunft ging, in das England des 17. Jahrhunderts. Es ist die Zeit von Oliver Cromwell (1599-1658), der in der kurzen republikanischen Periode zwischen 1649 und 1660 erst Führer des Parlamentsheeres und schließlich, von 1653 bis zu seinem Tod am 3. September 1658, »Lordprotektor von England, Schottland und Irland« war. Und es ist die Zeit der Männer, die gemeinsam mit Cromwell die Hinrichtung des letzten Königs, der versuchte, sein Land ohne die Mitwirkung des Parlaments absolutistisch zu regieren, beschlossen. Als nach der Widerherstellung der Königswürde im Mai 1660 Karl II., Sohn des enthaupteten Karl I., den Thron bestieg, war dann Rache an jenen 59 Männern angesagt, die ihre Unterschrift unter das Gerichtsurteil vom 26. Januar 1649 gesetzt hatten.

Edward Whalley und sein Schwiegersohn William Goffe waren zwei dieser Männer. Ihr Schicksal nach 1660 hat Robert Harris recherchiert und in seinem Roman verarbeitet. Da die beiden hochrangigen Offiziere als »Königsmörder«, enge Vertraute Cromwells und überzeugte Republikaner nicht darauf hoffen konnten, unter den von Karl II. nach seiner Thronbesteigung erlassenen Generalpardon für alle während der republikanischen Jahre begangenen Verbrechen zu fallen – dieser »Act of Oblivion« gab Harris‘ Roman auch seinen Originaltitel –, setzten sie sich per Schiff nach Neuengland ab. In Boston kamen die Männer am 27. Juli 1660 an. In den darauffolgenden Jahren ihres Exils mussten sie mehrmals ihren Aufenthaltsort wechseln, da die Gefahr, gegen ein Kopfgeld verraten und an die englische Krone ausgeliefert zu werden, nicht gebannt werden konnte.

Ein Leben im Untergrund

In den englischen Kolonien auf nordamerikanischem Boden finden Whalley und Goffe immer wieder Menschen, die es riskieren, die beiden »Königsmörder« bei sich aufzunehmen. Das ist nicht ungefährlich, denn schon bald ist den Flüchtigen ein Mann auf den Fersen, der nichts unversucht lässt, ihrer habhaft zu werden. Das liegt daran, dass jener Richard Nayler nicht nur seine Pflichten als Beamter des Kronrats sehr ernst nimmt, sondern zudem noch höchst persönliche Gründe dafür hat, von der Verfolgung der beiden Offiziere um keinen Preis abzulassen.

Whalley und Goffe waren es nämlich, auf deren Befehl hin eine am Weihnachtstag 1657 die Geburt Christi in einer Privatkapelle feiernde kleine Gemeinde, zu der auch Nayler und seine schwangere Frau gehörten, von Soldaten der Parlamentsarmee aufgelöst wurde. Als verantwortliche Offiziere des Trupps trugen sie dafür Sorge, dass alle damals Anwesenden wegen des Verstoßes gegen ein von der puritanischen Regierung erlassenes Parlamentsgesetz, wonach Weihnachtsfeiern generell unter Verbot standen, verwarnt wurden. Als sich Nayler dagegen auflehnte, ließen ihn die beiden in Haft nehmen erst, als er sechs Monate später das Newgate-Gefängnis wieder verlassen durfte, erfuhr er, dass seine Frau in jener Weihnachtsnacht eine Frühgeburt erlitten hatte, die sie und der Säugling nicht überlebten.

Rache und Staatsraison

Königsmörder ist, wie alle Romane von Robert Harris, sorgfältig recherchiert und mit einer die erzählte Geschichte einordnenden Vorbemerkung des Autors, die den Text als »fantasievolle Neuschöpfung einer wahren Geschichte« qualifiziert, und einem auch die benutzten Quellen offenlegenden Nachwort versehen. Ein dreiseitiges Personenverzeichnis soll es den Lesern erleichtern, die Übersicht über die Vielzahl der Handelnden diesseits und jenseits des Atlantiks zu behalten. Dass der Roman einen Schluss hat, der dem Überlebenden der nahezu anderthalb Jahrzehnte währenden Jagd auf die beiden Königsmörder, während der Whalley und Goffe praktisch Gefangene in Freiheit waren, hausend in Keller- und anderen Verstecken und immer gewärtig, entdeckt und an ihre Verfolger verraten zu werden, eine – wenn auch vage – Zukunft gibt, ist eine Entscheidung des Autors, die durch die Geschichte nicht gedeckt ist. Überliefert ist lediglich, dass Edward Whalley nach einem Schlaganfall noch jahrelang, gepflegt von seinem Schwiegersohn, dahindämmerte und Goffes Spuren sich nach dem Tod Whalleys in Neuengland verloren.

Da Letzterer auf ihrer Jahre währenden Odyssee durch verschiedene Verstecke in den Kolonien Neuenglands beginnt, ein seine Erinnerungen an die Cromwell-Jahre für seine Nachkommen zusammenfassendes Buch zu schreiben, hat sich der Autor damit auch die Möglichkeit eröffnet, Gedanken über eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels einfließen zu lassen, in welcher der Puritanismus des Mutterlandes über zahlreiche Emigranten in die amerikanischen Kolonien getragen wurde und sich dort zu einer durch fanatistische Auswüchse geprägten staatlichen Doktrin entwickelte, die eine der Romanfiguren zu folgendem Urteil verleitet: »Ein merkwürdiges Land, […], Wo zwei derart widerstreitende Rassen und Weltanschauungen, Heiden und Fanatiker, Seite an Seite lebten. Konnte daraus jemals etwas Gutes erstehen?«

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Robert Harris: Königsmörder
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
München: Wilhelm Heyne Verlag 2022
544 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Robert Harris in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ich sehe was, was du nicht siehst …

Nächster Artikel

Die Macht der Buchstaben

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Eine große Portion Blut mit einem Klecks Unglaubwürdigkeit an Schnee

Roman | Jo Nesbø: Blood on Snow Ein Serienkiller als gutherziger Taugenichts, der seine Profession mit moralischen Gründen rechtfertigt: Eine solche Figur glaubwürdig darzustellen, ist ein schwieriges Unterfangen. In ›Blood on Snow‹ versucht Jo Nesbø es trotzdem. Herausgekommen ist ein Thriller mit zu hohen Ambitionen – für Krimifans, die hart im Nehmen sind. Von VALERIE HERBERG

Poesie und Krabbencocktail

Roman | Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf

Ausgerechnet an einem Schauplatz vergangener literarischer Größen spielt Heinz Strunks aktueller Abgesang auf die bürgerliche Welt. Ein Sommer in Niendorf könnte sich romantisch, bedeutungsschwer und vielversprechend anfühlen. Doch der Kosmos dieses novellenartigen Romans hält eine Vielzahl an unberechenbaren Faktoren parat: Alkoholismus, emotionale Schwäche, sozialer Abstieg. Das konsumiert man als Leser mit angehaltenem Atem, doch nicht ohne unterschwelliges Staunen. Von INGEBORG JAISER

Kleinvieh macht manchmal auch großen Ärger

Roman | Liza Cody: Die Schnellimbissdetektivin

Nach einer Ex-Polizistin, einer Catcherin, der Witwe einer respektablen Rocklegende, einer Schriftstellerin, die das Leben einer ermordeten Sängerin recherchiert, einer Tochter indischer Einwanderer und einer obdachlosen Alkoholikerin überrascht Liza Cody in ihrem siebzehnten Roman die Leserinnen und Leser mit einer weiteren, aber ganz gut in die Reihe passenden Hauptfigur. Denn auch Hannah Abram war einmal bei der Polizei, hat sich allerdings mit einem Vorgesetzten angelegt – und das ziemlich handgreiflich. Deshalb arbeitet sie inzwischen im »Sandwich Shack« am Rande des Londoner Volksparks, hantiert gekonnt mit Toastscheiben, Würstchen und Speck und wird von Digby, ihrem cholerischen Chef, periodisch entlassen und kurz darauf wieder eingestellt. Weil ihr schmaler Verdienst weder hinten noch vorne ausreicht und ihr Ruf als Polizistin noch ein wenig nachhallt, verdient sie sich ein paar Pfund mit Detektivaufträgen dazu – nichts Großem, sondern nur Sachen, bei denen die Polizei  von vornherein abwinkt. Aber auch kleine Fälle haben gelegentlich so ihre Tücken. Von DIETMAR JACOBSEN

Die gefälschte Biografie

Roman | Javier Cercas: Der falsche Überlebende »Marco ist doch wie für dich gemacht! Du musst über ihn schreiben!« Mit diesen Worten hat Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa während eines Abendessens in Madrid seinem spanischen Kollegen Javier Cercas einen »Stoff« ans Herz gelegt, der 2005 in der spanischen Öffentlichkeit für einen Skandal gesorgt hatte. Eine Rezension von PETER MOHR

Panorama von ganz unten

Roman | Clemens Meyer: Im Stein »Das Leben in all seinen Facetten hat mich immer interessiert. Wenn ich Zeitung lese, dann stolpere ich immer über diese schlimmen Dinge«, gestand Clemens Meyers kürzlich in einem Interview mit Ulrich Wickert. Jetzt legt er seinen neuen Roman Im Stein vor. – Eine Besprechung von PETER MOHR