Marokkanische Scharade

Roman | Martin Suter: Melody

Verunglückt, ermordet, verschleppt oder einfach nur untergetaucht? Welches Schicksal ist der vor 40 Jahren spurlos verschwundenen jungen Frau namens Melody widerfahren? Und wie weit ist den smarten Geschichten ihres ehemaligen Verlobten zu trauen? In der vornehmen Zürcher Upper Class beginnt Martin Suters neuer Roman, der den Leser gleich mehrfach hinters Licht führen wird. Von INGEBORG JAISER

»Keinen ersten Satz ohne den letzten.« Martin Suters schriftstellerisches Motto lässt exakt durchgeplante Geschichten vermuten, einen anvisierten Plot mit festem Ziel. Sich nach den ersten Sätzen assoziativ treiben zu lassen, entspricht nicht seinem Stil. Als ehemaliger Werbetexter dürfte dem Schweizer Erfolgsautor eine weitere Maxime heilig sein: den Leser nicht zu langweilen. Das ist ihm mit seinem umfangreichen, fast ausnahmslos beim Hausverlag Diogenes erschienenen Oeuvre bislang bestens gelungen. Wenn man von einem eher missglückten Ausflug in die Popliteratur an der Seite von Benjamin von Stuckrad-Barre (›Alle sind so ernst geworden‹, 2021) oder der vielfach verrissenen Romanbiographie über Bastian Schweinsteiger (›Einer von euch‹, 2022) einmal absieht.

In Rückbesinnung auf seine klassischen Sujets hat Martin Suter nun aus den erfolgreichen Ingredienzien – reichlich Noblesse und Kulinarik, gewürzt mit gepflegter Scharlatanerie – einen neuen Roman komponiert, der ihn wieder in die Position als Publikumsliebling pushen wird. Ja, er kann es noch, atmet seine Fangemeinde geradezu erleichtert auf. Doch welche Tonfolge schlägt Melody an?

Kein Krawattenjob

Zwei Männer treffen aufeinander. Hier der 84-jährige, moribunde Dr. Peter Stotz, ein am Zürichberg residierender ehemaliger Nationalrat, Vorstandsvorsitzender, Kunstmäzen, Königsmacher, Geldgeber – und charismatischer Smalltalker obendrauf. Dort der junge Tom Elmer, 34 Jahre, Typ ewiger Student mit einem Double Degree, doch ohne Auskommen. Eher der Form halber bewirbt sich Tom auf eine altmodische Chiffre-Anzeige in der Tageszeitung, um den Forderungen des Arbeitsamts Genüge zu tun. Einen Krawattenjob strebt er auf jeden Fall nicht an ( Seine Abschlussnoten waren Krawatte genug ). Dr. Stotz sucht einen Nachlassverwalter – oder erst mal einen Archivar, der seine Vita aufhübscht und zurechtfrisiert. Tom erhält sofort den Zuschlag und wird mit freier Kost und Logis, samt elegantem Ambiente und geistreichen Kamingesprächen komplett vereinnahmt, so als hätte er nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine Seele verkauft.

Zwischen all dem Sichten, Ordnen und Shreddern des umfangreichen Stotzschen Dokumentenbestandes nimmt Tom am kultivierten Tagesablauf in der von Köchin und Hausdiener bespielten mondänen Villa teil. Man diniert exquisit (Coniglio alla Sarda, Orata al forno), trinkt etwas zu viel (»Dr. Stotz gehört zu den Patienten, bei denen das Alkoholtrinken nicht ein Zeichen dafür ist, dass es ihm bessergeht. Sondern ein Mittel dazu«) und setzt bei den anschließenden Plaudereien am Kamin noch einen obendrauf. Ein Vorfall scheint Dr. Stotz jedoch vor 40 Jahren das Herz gebrochen zu haben. Seine bezaubernde marokkanische Verlobte Tarana Alaoui, genannte Melody, ist einst am Tag vor der geplanten Hochzeit spurlos verschwunden. Entführt, ermordet oder einfach untergetaucht? Zahlreiche Relikte, Andenken, Bildnisse erinnern im ganzen Haus noch an sie.

Überraschende Volten

Als Dr. Stotz nicht ganz unerwartet stirbt, kommt es zu etlichen Überraschungen, nicht zuletzt zur Demontage seiner sorgsam aufgebaute Lebenskulisse. Tom als Willensvollstrecker und Großnichte Laura als Alleinerbin dürfen nebenbei noch großspurig durch die Welt jetten. Im dritten und letzten Teil des Romans schlägt die Geschichte einige spannende, unvorhergesehene Volten, die Melody durchaus in den Rang früherer Suter-Beinahekrimis wie Ein perfekter Freund oder Der Teufel von Mailand erheben. Doch auch dieser Roman schlängelt sich leichtfüßig und elegant an allen Genrebezeichnungen vorbei. Auch wenn manche Szenen in eine süßliche Romanze abzugleiten drohen, bezaubern die herrlichen Ausflüge in Kulinarik und Savoir Vivre, garniert mit einigen amüsanten hedonistischen Lebensweisheiten (»Sherry ist ein Stehgetränk«).

Fühlt sich an, als ob sich Martin Suter zu seinem 75. Geburtstag selbst ein literarisches Geschenk gemacht hätte. Ein abgeklärtes Alterswerk? Mitnichten. Der Meister startet noch mal richtig durch. Bekennende Suterianer werden sich bereits eine Karte für die wie ein Popkonzert angekündigte Melody-Tournee im St. Pauli Theater in Hamburg oder dem Kölner Gürzenich gesichert haben. Alle anderen mögen die Lektüre bei Whole lotta love in Endlosschleife und einem Gläschen Armagnac gepflegt zuhause zelebrieren.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Martin Suter: Melody
Zürich: Diogenes 2023
331 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Martin Suter in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Geheimrezept

Nächster Artikel

Roadtrip voller Fernweh

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Fünf Gefriertruhen

Roman | Stuart MacBride: Die dunkle Spur des Blutes

Ein verschwundener schottischer Verfassungsrechtler, Nicholas Wilson, der sich mit jedem anlegte: In Stuart MacBrides zwölftem Logan-McRae-Roman geht es um Politik und Fanatismus. Nationalisten gegen Unionisten, Brexitgegner gegen Brexit-Befürworter, Schotten gegen Engländer. Und mittendrin: McRae, nach einem Jahr der Rekonvaleszenz zurück in seinem Job  bei den Internen Ermittlern in Aberdeen und, weil DI King, der mit der Aufklärung des Wilson-Falles befasst ist, leider politisch ein bisschen zu nationalistisch getickt hat in seiner Jugend, dazu verdonnert, dem ungeliebten Kollegen zur Seite zu stehen. Kein einfacher Job, zumal sich zu Professor Wilson bald noch andere glühende Befürworter des Verbleibs der Schotten in der britischen Union gesellen. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Banalität des Guten – Vorabdruck

Roman | Manfred Wieninger: Die Banalität des Guten Anfang Oktober erscheint Manfred Wieningers Roman in Dokumenten ›Die Banalität des Guten‹. Lesen Sie auf TITEL kulturmagazin das erste Kapitel im Vorabdruck:

Auf dem Pfad der Ungewissheit

Roman | Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville Der Debütroman Viviane Élisabeth Fauville der französischen Autorin und Journalistin Julia Deck ist zunächst nicht das, was er zu sein scheint – und ist es am Ende doch: ein klassischer Krimi. Allerdings liegt die Spannung nicht auf der Klärung des Mordfalls. Die Täterin ist schließlich von Beginn an bekannt – oder etwa nicht? Ein kriminalistisches Verwirrspiel gelesen von ANNA NISCH

Letzte Wahlverwandtschaften

Roman | Peter Härtling: Der Gedankenspieler Weise, feinsinnig und versöhnlich begegnet uns Peter Härtlings letzter Roman, der dennoch das Wissen um die letzten Dinge preisgibt, der schonungslos den langsamen Abschied benennt. Denn sein Johannes Wenger – Protagonist, Gedankenspieler und Alter Ego – erträgt nur mit spöttischer Ironie und Eigensinn die Malaisen des Alters. Einen Zustand, »der einer Existenz zwischen Grube und Gipfel gleicht, zwischen nicht mehr hier und kaum noch dort.« Von INGEBORG JAISER

Die Putzfrau und die Snobs

Roman | Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest Martin Mosebach gehört nicht zu den schrillen Stimmen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Der 62-jährige Frankfurter pflegt einen altbackenen, detailverliebten Erzählstil und kokettiert überdies gern mit dem ihm verliehenen Attribut des »Erzkonservativen«. Der Georg-Büchner-Preisträger legt seinen neuen Roman Das Blutbuchenfest vor. Von PETER MOHR