Wenn Biografien zerbrechen

Sachbuch | Amy J. L. Baker, Paul R. Fine: Entfremdung

Die Wissenschaft setzt sich intensiv mit den Auswirkungen von Eltern-Kind-Kontaktverlust auf Kinder und Jugendliche auseinander. Über die Folgen für das Leben von Müttern, Vätern und Großeltern wird weniger geforscht und geschrieben. WILFRID VON BOCH-GALHAU über ein Buch, das helfen will, diese Lücke zu schließen.

Als Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie hatte ich in meiner Praxis über 25 Jahre mit Müttern, Vätern, Großeltern und erwachsenen Scheidungskindern zu tun, die unter schweren transgenerationalen gesundheitlichen Folgen von Eltern-Kind-Entfremdung (engl. Parental Alienation) litten.

Aufgrund dieser Erfahrungen möchte ich zu dem jetzt auf Deutsch veröffentlichten Buch ›Entfremdung‹ der bekannten amerikanischen Forscherin und Psychologin etwas beitragen. Das Buch wurde auf Deutsch übersetzt und 2023 im G. H. Hofmann-Verlag, (Gemünden) publiziert.

Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht handelt es sich bei induzierter Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation) – mit den vom amerikanischen Kinderpsychiater R. A. Gardner bereits 1985 beschriebenen Symptomen – um eine kindliche Folgestörung von manipulativem (indoktrinierendem) elterlichen Fehlverhalten im Sinne von psychischer/emotionaler Kindesmisshandlung (DSM-5, Code V995.51 und ICD-11 Code QE82.2), die zu traumatischen psychischen und psychosomatischen Langzeitfolgen in der Persönlichkeitsentwicklung des Scheidungskindes und des späteren Erwachsenen sowie betroffener Elternteile führen kann.

Es ist unverständlich, dass dieses Phänomen trotz entsprechender klinischer Befunde und trotz relevanter Erkenntnisse der jüngeren Psychotraumatologie, Viktimologie und Bindungsforschung von einigen Fachleuten und auch von gesellschaftlichen Interessengruppen immer noch bagatellisiert, verleugnet und sogar bekämpft wird.

Was betroffene Eltern angeht, so beschäftigt sich die Wissenschaft intensiv mit den Auswirkungen von Eltern-Kind-Kontaktverlust auf Kinder und Jugendliche, es wird jedoch noch zu wenig über dessen Folgen auf das Leben von Müttern, Vätern und Großeltern geforscht und geschrieben, die aufgrund institutioneller Interventionen und psychodynamischer Hintergründe den Kontakt zu ihren Kindern/Enkeln für lange Zeit oder für immer verlieren. Der Bruch in der eigenen Biografie, der dadurch entsteht, beeinträchtigt Lebensgestaltung, Lebensqualität und psychische Gesundheit der Betroffenen. Ich wünsche diesem Buch daher eine möglichst große Verbreitung im deutschsprachigen Raum.

Neben theoretischen Erörterungen zu »Parental Alienation« enthält es eine Vielzahl von bewegenden Lebensgeschichten betroffener Mütter und Väter, die den langen, leidvollen Prozess des Verlustes ihres Kindes/ihrer Kinder durchlaufen mussten und die bereit waren, ihre Erfahrungen mit anderen Betroffenen zu teilen.

Am Ende seines Artikels im ›American Journal of Forensic Psychology,‹ 2001, 19 (3): 61 – 103 schreibt der erfahrene amerikanische Kinderpsychiater Prof. Dr. R. A. Gardner: »Es ist offensichtlich schmerzlicher und psychologisch vernichtender, ein Kind durch Parental Alienation zu verlieren als durch den Tod. Für manche entfremdete Eltern ist der ständige Schmerz eine Art ›lebender Tod des Herzens‹«.

Möge dieses Buch dazu beitragen, dass Eltern-Kind-Entfremdung/Parental Alienation und ihre Folgen in Politik und Gesellschaft sowie bei professionellen Berufsgruppen im deutschsprachigen Raum zu stärkerem Bewusstsein und zur besseren Anerkennung führt.

| WILFRID VON BOCH-GALHAU

Dr. med. Wilfrid von Boch-Galhau ist Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie, i. R. Seit vielen Jahren hat er sich mit dem Thema Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation) in Theorie und Praxis auseinandergesetzt.

Titelangaben
Amy J.L. Baker, Paul R. Fine: Entfremdung
(Surviving Parental Alienation)
Übersetzung: Dr. Theo G. Kidan
Lektorat: Rebekka Elsäßer
Gemünden: Hofmann-Verlag 2023
220 Seiten, 29,80 Euro

1 Comment

  1. Rezension: Entfremdung (Amy J. L. Baker, Paul R. Fine)
    Kennen Sie diese Situation: Während des Scheidungsverfahrens, nach jahrelanger guter Beziehung, sagt Ihnen von einem Tag auf den anderen ihre Tochter, dass sie Sie nicht mehr sehen möchte. Oder dass Ihr Sohn immer wütender und aggressiver gegen sie wird? Bis er Sie eines Tages als das Böse schlechthin betrachtet und Sie nicht einmal mehr alle zwei Wochen am Wochenende sehen möchte? Erleben Sie diese Situation als Vater oder Mutter und verstehen nicht, was mit Ihrem Kind los ist? Oder beobachten Sie es von außen, als Familienangehöriger oder FreundIn, und fühlen sich hilflos? Dieses Buch kann Ihnen erklären, was vor sich geht und warum. Das, was sich abspielt, hat einen Namen: ‚Entfremdung.‘
    Es war längst überfällig, dass ein Buch der renommierten Psychologin Amy Baker aus den USA ins Deutsche übersetzt wird. Es ist eine schöne Fügung, dass dieses Buch zur Übersetzung ins Deutsche ausgewählt wurde, da es spezielles Heilungspotenzial für Eltern besitzt. Denn obwohl Schätzungen zufolge in Deutschland im Rahmen der Trennungen der Eltern jedes Jahr Zehntausende Kinder eines ihrer Eltern ablehnen, ist das Phänomen sogar unter Fachleuten wenig bekannt, Therapieangebote für die Kinder selten und Hilfe für die entfremdeten Eltern noch spärlicher.
    Im vorliegenden Buch lässt Amy Baker zahlreiche Mütter und Väter die Geschichte ihrer Entfremdung erzählen, und schon das Lesen allein ist heilsam. Sich in den Erzählungen der anderen wiederzufinden und die Erfahrung zu machen, nicht allein zu sein, stellt bereits einen ersten Schritt der Bewältigung dar. Die Erkenntnis, dass alle entfremdenden Ex-PartnerInnen mit ähnlichen Handlungen die Kinder beeinflussen, stärkt die Glaubwürdigkeit der Opfer. Die allgemeine Skepsis im sozialen Umfeld, insbesondere gegenüber Müttern – ‚Da wird schon was gewesen sein‘ – wird damit als unbegründet relativiert. Es ist zu wünschen, dass betroffene Leser sich durch dieses Buch ermutigt fühlen, das Erzählnarrativ der Ablehnung durch ihre Kinder nicht länger ihrem/r Ex-PartnerIn zu überlassen. Dass sie die Erfahrung machen können, wie heilsam und kraftvoll es ist, ihre eigene Version der für sie traumatischen Geschichte zu erzählen.
    Monica Toma (Eine entfremdete Mutter)

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