//

Christians Variante / Karttinger 3

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Christians Variante/ Karttinger 3

Sie hatten noch auf der Terrasse gesessen und Mühle gespielt, Christians Kopf glänzte unter dem Mondlicht, er setzte seine Steine und verschob sie, bis Thomas keinen einzigen Stein bewegen konnte, er war eingekesselt, gelähmt, das ging nicht mit rechten Dingen zu, war es überhaupt regelkonform.

Bereits während der Busreise hatte er sich gewundert, und nun ärgerte er sich, weil er Christian nicht beizeiten gedrängt hatte, sich akkurat an die Regeln zu halten, es war ein Elend, und gegen diese Spielweise standzuhalten, daran war schwerlich zu denken.

Aber er hatte sich einmal darauf eingelassen und kam nun davon nicht wieder los, er kochte vor Wut, fühlte sich in einer Sackgasse und fand nicht hinaus.

Er spielte leidenschaftlich gern Mühle und erinnerte sich nicht, je so verheerend abgeschnitten zu haben, Christian spielte unorthodox. Zwar beschwichtigte er und behauptete, Thomas habe während der Busreise dreimal gewonnen, doch davon hätte Thomas gewußt.

Gestern Abend hatte er akribisch achtgegeben, Christians Spiel war  von Grund auf destruktiv, er hegte vom ersten Setzen an nicht die geringste Absicht, eine Mühle zu formieren, und das widersprach dem Sinn des Spiels, wie konnte das sein, diese Spielweise unterminierte das System.

Erbost hatte er ihn zur Rede gestellt. In jeder Spielanleitung könne man lesen, hatte er gesagt, daß das Ziel darin liege, Mühlen zu bilden, weshalb ignoriere er das.

Christian hatte spöttisch gelacht und abgewiegelt, und dann amüsiert, mit verschwörerisch gedämpfter Stimme erklärt, er habe das Spiel um seine Negation erweitert, diese Variante zu spielen, sei immer schon möglich gewesen, und ob er darauf verzichten solle, hatte Christian gefragt, Züge zu nutzen, die das Spiel zweifelsfrei an die Hand gebe, und Thomas hatte wieder gefunden, daß Christian sich herablassend gebärdete.

Er könne ihn beruhigen, hatte Christian aber versichert, denn vor dem siebenten oder achten Stein wisse er oft selbst nicht, worauf seine Züge hinausliefen, seine Spielweise sei intuitiv und wachse aus der Konstellation auf dem Brett.

Gar keine Frage, hatte Christian erklärt, sie hatten die zweite Flasche Rotwein geöffnet, er beherrsche auch die herkömmliche Partie, und zog nun gewaltig vom Leder. Die verfügbare Literatur, schwadronierte er, sei ihm geläufig: Fibatzkys klassische Schiebemühle, undatiert; Schröderles Mühleck, das jahrzehntelang den Diskurs dominiert habe und erst achtundvierzig im denkwürdigen Championat von Turkku durch das Vier-Knoten-Theorem des jüngeren Yilmaz abgelöst worden sei – sämtlich auf Steingewinn zielende Systeme, als deren zentrales Manko sich letztlich immer wieder das Drei-Steine-Dogma des Endspiels erwiesen habe, er wollte Eindruck schinden, ein Aufschneider, woher hatte er das.

Er könne, schloß Christian, Schelinsky nur beipflichten, der das Drei-Steine-Dogma inkompatibel nenne, nur habe der nicht die praktischen Konsequenzen gezogen.

Sechsmal hatte Thomas gestern Abend verloren. Es ging einfach nicht mit rechten Dingen zu, daß einer das Schieben im Viereck, ja jedes Rücken eines Steines aggressiv blockiert und zu guter Letzt, indem er alle Wege versperrt und nicht der geringste Zug möglich bleibt, den Gegner ultimativ lahmlegt, ihm gelingt das noch mit fünf oder sechs verbliebenen eigenen Steinen. Wer die Absichten nicht beizeiten durchschaut und arglos eine Mühle zu bilden sucht, läßt sich auf ein aussichtsloses Gefecht ein. Christian kehrt den Sinn des Spiels um, will das aber partout nicht einsehen.

Wenn er dasitze, erklärte Christian, und über den nächsten Spielzug grübele, empfinde er einen Hauch kosmischer Harmonie, den Wechsel und die geheimnisvolle Balance der Räume und Zeiten – den Atem des Planeten, der das Gleichgewicht wahre und erneuere.

Christian spinnt.

Er selbst saß meistens wohl anders da: verlegen, ratlos, welche Taktik Christian einschlagen werde, wehrlos, das raubte ihm jegliche Freude am Spiel. Sobald die ersten Steine gesetzt seien, hege er wohl einen Verdacht, aber zu spät, alles zu spät, er sei längst im Hintertreffen, und Christian weigerte sich beharrlich, auf seine Variante zu verzichten, sie sei, behauptete er, mit den Regeln vereinbar. Das Gegenteil war der Fall – barbarisch war sie, ein Zivilisationsbruch.

Gleich das erste Spiel an diesem Morgen verlor er wieder, sie waren aus dem Zelt gekrochen und waren noch schläfrig, er war unkonzentriert, verbissen, teilte die Steine neu aus, den Tränen nahe, und Christian legte diesmal bereits beim Setzen eine Mühle.

Da wurde die Terrassentür aufgezogen, die Karttinger deckte Brettchen auf.

Legt das Spiel beiseite!, rief sie ihnen zu, es sind frische Brötchen vom Haupthaus zu holen. Seid so freundlich!

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kreativität pur

Nächster Artikel

Jede Menge Erinnerungen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kontrovers

TITEL-TExtfeld | Wolf Senff: Kontrovers

Die Erschaffung der Welt sei beileibe kein einmaliges Ereignis, sie bedürfe der ständigen Wiederholung und Erneuerung. Tilman schmunzelte. Täglich, fügte er hinzu.

Ist das so?, fragte Anne: Wer sagt das? Deine Ägypter?

Immer auf der Höhe der Zeit, spottete Farb.

Wir befinden uns in der dreieinhalbtausendjährigen Kultur des Alten Ägypten, das sei gar kein abwegiges Gedankenspiel, sagte Tilman, keineswegs, sagte er, angesichts einer Gegenwart, die daran arbeite, die Abläufe des Lebens und ihre Grundlagen zu schädigen.

Alles verändert

Kurzprosa | Jostein Gaarder: Genau richtig »Vorhin war ich bei Marianne, und mir ist klar, dass von nun an alles verändert ist.« Mit diesem Satz des Lehrers Albert eröffnet der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder seine neue kurze Erzählung Genau richtig. Albert bekommt von seiner Ärztin Marianne, die zufällig auch seine Jugendliebe war, die Nachricht, dass er unheilbar an ALS erkrankt ist und sein Nervensystem peu à peu versagen wird. Vielleicht drei, wahrscheinlich aber nur etwas mehr als ein Jahr bleibt ihm, so die düstere Prognose der Medizinerin. Von PETER MOHR

Krieg und Frieden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krieg und Frieden

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, fragte Anne.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß.

Lakota

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lakota

Er habe nicht verstanden, sagte Harmat, was mit den Lakota geschah, sie führten diverse Prozesse, die sich über Jahrhunderte hinzogen?

Nachdem die ersten Immigranten eingetroffen waren, sagte Gramner, nach Westen aufbrachen und das Land kolonisierten, formierte sich in Nordamerika eine räuberische Nation, die Immigranten nahmen das Land in Besitz, auf dem die ursprünglichen Einwohner, die First Nations, lebten, und ließen allein ihr eigenes Recht gelten.

Die Einwohner, fragte LaBelle, mußten sich den Gesetzen der Immigranten fügen?

Das stellt die Welt auf den Kopf, sagte Crockeye.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, ging einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Das Gespräch stockte.

Kollaps

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kollaps

Haschen nach Wind, sagte Wette, ein Haschen nach Wind.

Farb lachte. Nachdem die Tech-Barone dem Menschen ihre Digitalisierung angedient haben, führen sie nun der Welt vor, was für tolle Kerle sie doch seien, und wirbeln Staub auf.