Sommer ohne Balkon

Roman | Elena Fischer: Paradise Garden

Den vielversprechenden Debütroman einer bislang unbekannten Autorin schickte der renommierte Diogenes Verlag ins Rennen um den Deutschen Buchpreis. Mit guten Gründen, denn Elena Fischers Paradise Garden kommt so hinreißend frisch und unverbraucht daher, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legen mag, trotz der im Grunde tieftraurigen Thematik. Doch mehrfach heißt es im Verlauf der Geschichte: alles auf Anfang. Von INGEBORG JAISER

Paradise Garden heißt der knallebunte, zuckersüße Eisbecher, der nur zu ganz besonderen Anlässen spendiert wird: wenn ein neuer Monat beginnt, das Konto wieder gedeckt ist und zwischen den beiden Jobs der Mutter etwas Freizeit bleibt. Denn Sommer fühlt sich für die 14jährige Billie nicht wie Swimmingpool und Urlaubsreise an. Viel eher werden die Liegestühle in den Laubengang der Hochhaussiedlung gestellt, zwischen die Eingänge der solariumgebräunten, rosagesträhnten Nachbarin Luna und dem nach Shisha und Seife duftenden Nachbarn Ahmed.

Was die Sozialarbeiterinnen Prekariat nennen würden, kennt Billie nicht anders: Klamotten aus dem Secondhandladen, Abendessen aus der Mikrowelle. Doch Mutter Marika weiß, diesem Leben einen ganz besonderen Hauch zu verleihen. »Sie wollte, dass der Ort, wo wir lebten, schön war. Sie wollte nicht, dass jemand, der uns besuchen kam, sofort sah, dass wir am Monatsende Nudeln mit Ketchup aßen«, spürt Billie, aus deren hellsichtiger, wachsamer Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird.

Familienzusammenführung

Das ändert sich schlagartig, als mitten in den Sommerferien die gleichermaßen bigotte wie hypochondrische Großmutter aus Ungarn angereist kommt und ausgerechnet Billies Zimmer in Beschlag nimmt. Es kommt zum Eklat, zu einem Unfall, bei dem Marika stirbt. »Mein Leben war in zwei Teile zerfallen. In ein Davor und ein Danach. Davor war meine Mutter die Antwort, danach war sie die Frage.« Zu den befremdlichen Leerstellen gehört Billies unbekannter Vater. Und für die neuen Erkenntnissen steht die Tatsache, dass Billie eigentlich auf den Namen Erzsébet getauft wurde. Ausgesprochen: Ärschebett.

Todtraurig könnte diese Geschichte weitererzählt werden, als Sozialstudie, Melodram, Trauerspiel. Doch die junge Mainzer Autorin Elena Fischer (über die bislang wenig in Erfahrung zu bringen ist, außer dem klaren Verfolgen literarischer Ambitionen) hat ihrem Debütroman eine luftige Leichtigkeit und ansteckende Zuversicht verliehen, gewürzt mit einer feinen Prise Humor. Für die 14jährige Protagonistin Billie trifft sie genau den richtigen Tonfall zwischen Verzweiflung, Aufbruchstimmung, Trotz, aber auch der klugen Gewitztheit einer Jugendlichen, die viel Zeit zwischen Erwachsenen zugebracht hat.

Als einerseits die Großmutter, andererseits das Jugendamt droht, türmt Billie mit dem altersschwachen Nissan. »Als meine Mutter entschied, dass ich alt genug war, um Auto fahren zu lernen, war ich zwölf. ›Deine Beine sind jetzt lang genug‹, sagte sie.«

Roadtrip an die Nordsee

Dass Billie auf der Suche nach ihrem Vater im Nissan bis zur Nordsee gondelt, immer dem Kompass und einem dringlichen Gefühl hinterher, gleicht einem modernen Sommermärchen. Den Vater findet sie zwar nicht, doch dafür unerwartete Wahlverwandte und Weggefährten, vielleicht sogar ein neues Zuhause. Auf jeden Fall die elementare Erkenntnis: »Jeder hat eine Geschichte.« So oszilliert dieses literarische Debüt schillernd zwischen Zsuzsa Banks Die hellen Tage und Wolfgang Herrndorfs Tschick – und entfaltet doch einen ganz eigenen Sound, eine hoffnungsvolle Stimmung.

Gekonnt verleiht das Covermotiv (nach einem Gemälde der irischen Künstlerin Laura Cronin) der jugendlichen Protagonistin Billie ein Gesicht: zugleich fragend wie selbstbestimmt, in meerjungfrauenhaften Grünschattierungen. Doch wer den Schutzumschlag lüftet, trifft auf himbeerfarbenes Leinen, so fruchtig süß und verführerisch, wie wohl nur ein Eisbecher Paradise Garden sein kann.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Elena Fischer: Paradise Garden
Zürich: Diogenes 2023
352 Seiten. 23 Euro
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