//

Wunderkinder

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wunderkinder

Eldins Schulter?

Kein Ende in Sichtweite.

Kann folglich noch dauern. Scammon?

Hockt achtern in seiner Kajüte über seinen Aufzeichnungen.

Läßt sich nicht blicken?

Läßt sich nicht blicken.

Der Ausguck nickte und ging in den Handstand. Thimbleman ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er applaudierte.

Der Ausguck lächelte, verlagerte seinen Schwerpunkt, hob den linken Arm und stand auf einer Hand.

Wie du das machst, Ausguck. Thimbleman war sprachlos.

Ein Wunderkind, sagte er, du könntest damit in der Stadt auftreten und eine Menge Geld verdienen.

Der Ausguck wechselte und stand auf der linken Hand.

Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt, keine Schuhe. Als sie die Tür öffnete, hielten die Detectives noch immer ihre Dienstwaffen in den Händen. Sie hatten zwar erklärt, Polizisten zu sein, aber die Frau hatte nicht mit gezogenen Pistolen gerechnet. Sie hätte ihnen fast wieder die Tür vor der Nase zugeknallt.

Du erinnerst dich, Ausguck, daß Sut von einem Wunderkind erzählte? Dieser Junge lebte einige Jahrzehnte vor unserer Zeit, sagt Sut, und besaß außergewöhnliches Talent im Klavierspiel; er wurde von seinem Vater, einem angehenden Kapellmeister in Salzburg, darin geübt bzw., in Suts Worten, massiv zum Klavierspiel gezwungen, der Vater präsentierte ihn auf Auftritten, sie unternahmen strapaziöse Reisen nach Wien, Brüssel, Paris, Genf, er sonnte sich im Glanz des Sohnes, und dieser war über die Grenzen hinweg berühmt.

Der Ausguck tauchte ab in die Nacht, nahm drei Schritt Anlauf, schlug einen Salto und setzte sich wieder.

Kein erstrebenswertes Leben, sagte Thimbleman. Der Knabe sei ausgenutzt worden, wohin er auch kam. Er  habe Opern komponiert, sagt Sut, die noch Jahrhunderte nach seinem Tod bewundert worden seien. Und? Was habe ihm das eingebracht? Er habe sich an einen aufwendigen Lebenswandel gewöhnt, den er sich in seinen letzten Jahren nicht länger habe leisten können, er habe auf dem Totenbett behauptet, vergiftet zu sein, und sei aus dem Leben geschieden, da sei er sechsunddreißig gewesen. Kein Vorbild, nein, sondern ein Getriebener, der nie im eigenen Leben angekommen sei.

Der Ausguck schlug erneut einen Salto.

Nein, bekräftigte Thimbleman, kein Vorbild für dich, die Hochleistungsgesellschaft schlägt Wurzeln, wirf nur einen Blick in die Stadt, Ausguck, sieh den blinden Rausch der Goldgräber – wie solle ein Kind sich da orientieren. Der Mensch, sagt Sut, greife wie eine Krake nach jedem Talent, umschlinge es, erdrücke es, giere mit allen Mitteln nach Ruhm, nach Geld, nach Besitz, was für ein Leben.

Nein, sagt Sut, die Zeiten änderten sich wenig, eine Sonderbegabung wecke Hoffnungen und Ansprüche. Im Amsterdam der Moderne, sagt Sut, also lange vor unserer Zeit, führe ein Kind, neun Jahre alt, sein Studium zum Abschluß und sei schon lückenlos vereinnahmt für den Irrsinn von Fortschritt und Wachstum, Ingenieur wolle er werden, berichteten die Eltern, sagt Sut, und unter dem Schleier der Nächstenliebe sei er eine feste Bank im Spiel des Maschinenwesens.

Lowenthal war Anfang Fünfzig, schätzte Carella, mit ergrauendem Haar und bleichen Augen. Er sah müde aus. Als käme er gerade von einer schwierigen Operation, was aber nicht der Fall war. Die Jalousien hinter ihm waren geschlossen; die Nachmittagssonne stand schon tief am Horizont.  

Für den Klimawandel, sagt Sut, davon zeige sich dieses Büblein zutiefst überzeugt, werde es eine technische Lösung geben –  eine wahrlich rührende Botschaft, während die Buschfeuer in New South Wales und die Waldbrände in Kalifornien das Land abfackeln, Vulkane auf Island, Dürre in Spanien, wir können es gar nicht mehr aufzählen, sagt er, und Venedig ersäuft in den Fluten.

Sut, erinnerte sich Thimbleman, sei wütend geworden. Ein grauenvolles Drehbuch über mehrere Jahrhunderte, habe er empört ausgerufen, und ob jemand zu belangen sei, der das zu verantworten habe! Eben noch, sagt er, rede alle Welt über Greta Thunberg und das kollabierende Klima, und schon falle, welch ein trefflicher Zufall, aus heiterem Himmel dieses Ich-finde-eine- technische-Lösung-Knäblein herab, wahrlich ein Trost, wahrlich zeitgemäß, wahrlich ein Wunderkind.

In der Endzeit jener Moderne, sagt Sut, werde – nach uns die Sintflut – eine aufwendige propagandistische Kampagne, Wunderkind inklusive,  generalstabsmäßig inszeniert mit dem Ziel, noch die allerletzten profitablen Ressourcen aus dem Planeten und aus dem Menschen herauszupressen.

Der Mensch, sagt Sut, habe sich verabschiedet, sei heraus aus dem Spiel, und die Geschicke würden nunmehr einzig vom Maschinenwesen gestaltet, einem Dämon, der den Menschen als einen Ingenieur toleriere, als einen Handlanger, zuständig für Entwicklung und Instandhaltung der Automaten.

Der Ausguck war amüsiert. Was gehe uns die Zukunft an, spottete er, und was das Geschwätz speichelleckender Wunderknaben.

| WOLF SENFF

[Unterbrechertexte aus: Ed McBain, Big Bad City, Hamburg, Wien 2000, S. 178, S. 184]

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Irrtümer

Nächster Artikel

Das Schicksal am Nil nimmt seinen Lauf

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

»Saint Genet« – Eine moderne Heiligenlegende?

Menschen | Jean Genet ist vor 100 Jahre geboren Von der Mutter, einer Prostituierten ausgesetzt, der Fürsorge überstellt, Fremdenlegionär, er desertiert, schlägt sich als Dieb, Strichjunge durchs Leben. Die Folge: Besserungsanstalten, Gefängnis. Die drohende lebenslängliche Verbannung wird nach Fürsprache von Cocteau und Sartre aufgehoben. Die Rettung: Schreiben. – Am 19. Dezember vor 100 Jahren ist Jean Genet geboren. Von HUBERT HOLZMANN

Patriotisches Würgen

Menschen | Peter Bichsel zum 80. Geburtstag Der Kolumnenband Über das Wetter reden ist rechtzeitig zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Peter Bichsel am 24. März* erschienen. PETER MOHR gratuliert.

Vergebliches Streben nach Glück

Kurzprosa | George Saunders: Zehnter Dezember George Saunders‘ meisterhafte Kurzgeschichten wirken gleichzeitig authentisch und alltäglich wie surreal und absurd. Die eben erschienene Sammlung Zehnter Dezember könnte tatsächlich zum besten Buch des Jahres werden. Von INGEBORG JAISER

Alle Jahre wieder

Kurzprosa | Literaturkalender 2025

Für die einen sind sie Zeitplaner und Taktgeber, für die anderen farbenprächtiger Wandschmuck oder tägliche Quelle der Inspiration und der (Wieder-)Entdeckungen: Literaturkalender. Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken, wärmt ein poetischer Ausblick Geist und Herz. Nicht nur INGEBORG JAISER freut sich auf das kommende Jahr.

Zukunft II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff:  Zukunft II

Doch, auch der Mensch, sagte Rostock, selbstverständlich.

Er werde es nur nicht beizeiten gemerkt haben, sagte Thimbleman.

Er werde es nicht wahrhaben wollen, sagte der Ausguck.

Wem falle es leicht, sagte der Rotschopf, den kritischen Blick auf sich selbst zu richten.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit gegessen.

Touste starrte unverwandt auf die Sterne.

Die Nacht in der Ojo de Liebre war mild.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.