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»Jeder Mensch ist ein Abgrund«

Bühne | ›Woyzeck‹ im Stadttheater Pforzheim

Ein Mann am Ende seiner Kräfte, zerrieben zwischen der Sorge um seine Familie und regelrecht missbraucht mittels eines zynischen Menschenexperiments – so erscheint der Friedrich Johann Franz Woyzeck (ausdrucksstark, emotional-authentisch und empathisch: Jan-Hendrik von Minden) dem Publikum im Pforzheimer Stadttheater auf der Bühne (Inszenierung: Elias Perrig). Im Gegensatz dazu tanzt sich der Tambourmajor (ebenfalls authentisch und ausdrucksstark: Jacob Hetzner) leider nicht nur in die Herzen des Publikums, sondern auch in das Herz von Woyzecks Freundin Marie Zickwolf. Damit treibt er die Tragödie voran. Von JENNIFER WARZECHA

Im Vordergrund Jan-Hendrik von Minden (Woyzeck) und Ensemble
im Vordergrund Jan-Hendrik von Minden (Woyzeck) und Ensemble

Schon zu Beginn der Aufführung sind verschiedene Schaukelpferde aufgestellt (Ausstattung: Esther Bätschmann). Immer wieder setzt sich Marie (gefühlvoll, authentisch und empathisch: Leonie Jacobs) auf eines der Pferde, wippt hin und her, wie, um sich zu beruhigen, und sinniert über ihr Leben bzw. betrachtet ihr Kind. Während Woyzeck sich um das Leben und Überleben seiner Familie kümmert und sich um den gemeinsamen Unterhalt sorgt, scheint Marie sich eher zu langweiligen. Schließlich kommt bei viel harter Arbeit eher mal das Gefühls- und Liebesleben zu kurz. Sie verfällt dem Tambourmajor.

Schon das erste Mal, als sie sich begegnen, fallen sie sich gegenseitig in die Arme, packen sich bei den Haaren und kommen schier nicht mehr voneinander los. Das drückt sich auch in den erotisch-anmutenden Liedern aus. Insgesamt gibt es sehr viele Lieder im Stück, drücken sich doch in ihnen nicht nur Gefühle und Emotionen aus, sondern auch der Soziolekt. Dieser charakterisiert die Figuren im Stück nach ihrem Stand.

Auch Marie und Woyzeck verfallen eher in den Dialekt, während der Doktor (authentisch und überzeugend: Andreas C. Meyer) oder der Hauptmann (energievoll, authentisch und charakterstark: Jens Peter) sich eher der Hochsprache bedienen.

Woyzeck leidet im Stück. Er windet sich auf der Bühne, hört Stimmen. Er führt kein einfaches Leben, genauso wie sein Autor Georg Büchner, der schon mit 23 Jahren nach einem schweren Leben gestorben ist. Dies machte Andreas Frane, der Dramaturg des Stückes und Schauspieldirektor, dem Publikum, in dem sich sehr viele Schülerinnen und Schüler befanden, klar. »Das Schauspiel ist kein fröhliches Stück. Es ist hart und kompromisslos«, sagte er.

Von Georg Büchners (1813-1837) »Woyzeck« existieren unterschiedliche, insgesamt drei, Handschriftenfassungen. Bei diesem ist vom Autor nicht überliefert, wie die Szenen angeordnet sein sollen. So kommt es bei den verschiedenen Aufführungen immer wieder zu einem anderen, einem offenen Schluss. Leider bleibt der Mord Woyzecks an Marie stets bestehen und zeigt umso mehr auf, wie Existenznot oder Überforderung samt dem Gefühl der Eifersucht den Menschen zum Äußersten bringen können. Nicht umsonst schreibt Georg Büchner auch: »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.« Dieser Abgrund kommt im Stück nicht von ungefähr, zeigt sich in ihm, so Frane, doch die »true crime fiction«. D.h. die Geschichte beruht auf mehreren Mordfällen wie der Hinrichtung Woyzecks (reale Figur) 1824. »Die Kriminalfälle sind die Hauptquelle für den ›Woyzeck‹.

Er ist revolutionär hinsichtlich des Inhalts und der Sprache mitsamt des Soziolekts, der die Schichtenzugehörigkeit charakterisiert. Es ist ein viel bearbeiteter Stoff. Die Schauspieler haben ihre erste Stelle nach der Schauspielschule hier. Das macht was mit dem Stück und zeigt besonders die Herausforderungen dieser Zeit«, so Andreas Frane. Diese haben die Schauspielerinnen und Schauspieler zumindest im Stück hervorragend gemeistert und zeigen damit wieder einmal, welche Qualität das Stadttheater Pforzheim liefert. Rundum gelungen!

| JENNIFER WARZECHA
| Abbildungen: JOCHEN KLENK

Titelangaben
WOYZECK
Schauspiel von Georg Büchner
Theater Pforzheim, Großes Haus

Besetzung:
WOYZECK: JAN-HENDRIK VON MINDEN, MARIE: LEONIE JACOBS
HAUPTMANN: JENS PETER, DOKTOR: ANDREAS C. MEYER
TAMBOURMAJOR: JACOB HETZNER, ANDRES: MAX RANFT
MARGRETH NIKA WANDERER

Termine:
Sa. 23.03.2024, Beginn: 19:30
Mi. 27.03.2024, Beginn: 20:00
Do. 11.04.2024, Beginn: 20:00
Mi. 15.05.2024, Beginn: 20:00

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Von JENNIFER WARZECHA