Interview mit Friederike Mayröcker. Von THOMAS COMBRINK
THOMAS COMBRINK: Ihr neuer Prosatext »Und ich schüttelte einen Liebling« gefällt mir besser als die »Autobiographie der Alice B. Toklas«. Was hat Sie an dem Buch von Gertrude Stein gereizt?
FRIEDERIKE MAYRÖCKER: Ich habe Steins ›Autobiographie der Alice B. Toklas‹ einige Male gelesen, es hat mir gut gefallen – ich kenne fast alles von Gertrude Stein. Viel habe ich exzerpiert, die Exzerpte sind in die Komposition meines neuen Buches eingegangen. Ihr Leben und ihr Werk haben mich sehr beeindruckt. Das Buch enthält viel Persönliches, der Stil neigt zur Einfachheit. Das hat mich veranlasst, mit meinem neuen Buch zu beginnen. Ich habe auch viel über Pablo Picasso gelesen. Steins Anfänge: kurze Prosatexte mit Story haben mir weniger gefallen.
In Ihrem Buch taucht öfters der Satz »und ich schreibe jetzt figural« auf. Was hat es damit auf sich?
Das ist nicht auflösbar, ich kann dazu nichts sagen. Der Satz ist plötzlich aufgetaucht, mir immer wieder in den Sinn gekommen, sodass ich ihn dann in den laufenden Text eingestreut habe. Auch der Ausdruck »Reinschrift« kommt öfter vor, es bedeutet nur, dass ich meine Texte immer wieder ins reine schreibe.
Die Gesetze von Zeit und Raum werden in dieser Prosa etwas lockerer gehandhabt. Steckt da eine bestimmte Art des Wahrnehmens von Wirklichkeit hinter?
Natürlich hat es mit der Wahrnehmung von Realität zu tun. Manchmal bemerke ich, dass sich Zeiten und Örtlichkeiten ineinander verschieben, und es kommen Erinnerungen, die in einem anderen Zeitlauf waren und sich dann in meine jetzige Wirklichkeit hineindrängen.
Aber in der Sprache befindet sich doch schon so etwas wie Wirklichkeit.
Das könnte man sagen. Die Wirklichkeit hat große Rechte. In den experimentellen Texten ist dieser Einfluss geringer, da die Wirklichkeit hier stärker verwandelt wird. Eine große Anregung ist die Bildende Kunst, sehr viele Arbeiten habe ich anhand von bildender Kunst gemacht.
Die »Postkarte« von Jaques Derrida lesen Sie nun schon seit 20 Jahren immer wieder. Wieso ist dieses Buch so wichtig für Sie?
Es ist für mich ein sehr wichtiges Buch, weil es sehr erotisch ist, und es ist eine Art Brieftagebuch mit einer hinreißenden Sprache.
An einer Stelle schreiben Sie: »aber ich weise die Forderung nach Humor in den schönen Künsten zurück«.
Ich beziehe ich mich da auf Roland Barthes‘ »Die helle Kammer«: Er sprach sich gegen Humor in der bildenden Kunst und in der Musik aus, das finde ich sehr gut.
Sind Sie denn ein humorvoller Mensch?
Ich habe wahrscheinlich einen versteckten Humor – in manchen meiner Bücher wie in »brütt« ist es sehr auffallend.
Was hat es mit den vielen Vogelbildern auf sich? Haben Sie ein ornithologisches Interesse?
Oft reizen mich einfach auch die Vogelnamen, vor allem wegen des Klanges. Ich habe für die Natur, besonders für die Vogelwelt einiges übrig, obwohl ich keine Ornithologin bin. Überhaupt sind mir all die Dinge, die die Natur uns offenbart, wichtig. Sehr viel habe ich von den Kindersommern in Deinzendorf mitgenommen, und daher kommt eigentlich meine große Liebe zur Natur und auch zu den Tieren. Da war ich ganz nah an der Natur dran, diese zehn Sommermonate in Deinzendorf. Das war ein großer Eindruck für mich und meine Mutter, die auch sehr naturliebend war. Sie hat mir immer wieder vor Augen gehalten, dass man keine Schmetterlinge fangen und keine Käfer zerdrücken darf. Das war für mich ganz wichtig als Kind, dass ich das auch dann so durchgeführt habe. Mein Vater hat mir alle Pflanzennamen beigebracht.
Am Schluss von »Und ich schüttelte einen Liebling« heißt es: »In diesem entstehenden Buch habe ich einen Nicht-Stil angewendet«.
Es gibt nicht so viele Höhenflüge wie in den anderen Büchern. Diese neue Prosa ist realistischer. Ich habe ein großes Bedürfnis verspürt, mit meinem Schreiben dem Weg nachzufahren, den Gertrude Stein mit ihrem Buch vorgezeichnet hat. In dieser Spur wollte ich bleiben, was nicht heißt, das mein nächstes Buch dann auch so werden wird. Wahrscheinlich eher nicht. Ich arbeite jetzt nur an Gedichten, aber ich komme immer wieder darauf, dass ich doch gerne noch ein Prosabuch schreiben möchte.
Das Buch ist sehr persönlich. Fällt es Ihnen schwer, Privates preiszugeben?
Nein. Als Autor muss man das einfach tun. Da kann man damit nicht zurückhalten. In dem Augenblick, wo es Kunst wird, wo es sich verwandelt zu einem Kunstwerk, ist alles in Ordnung. Falsch wäre es, wenn man zum Beispiel Tagebuchaufzeichungen einfach so veröffentlichen würde. Das ist dann peinlich, aber die Kunst kennt keine Indiskretion. Das Buch ist so autobiographisch wie meine anderen Bücher, denn das poetische Ich ist manchmal sehr nah an mir dran. Wenn ein Satz vorkommt wie »Ich bin Kettenraucherin«, dann stimmt der ja nur in einem poetischen Sinne. Also schleuse ich Dinge ein, die überhaupt nichts mit mir zu tun haben. Auch die Namen sind oft erfunden.
Haben Sie eigentlich ein Lieblingsbuch unter Ihren eigenen Bücher?
Ja, »brütt oder Die seufzenden Gärten« – ein sprachlicher Höhepunkt. Auch »Die Abschiede« waren ein sprachlicher Höhepunkt. Viele nennen »Reise durch die Nacht« als ihr Lieblingsbuch. Da gibt es eine story: Das poetische Ich steigt zu einer Nachtfahrt in Paris in den Zug und kommt am Morgen in Wien an. Dieses Buch wird als Einstieg in die Arbeit von FM empfohlen.
Wie sind Sie auf den Titel des neuen Buches gekommen?
Meine Verlegerin hat diesen Titel vorgeschlagen. Ich wollte es eigentlich »Narration« nennen, »Und ich schüttelte einen Liebling« gefällt mir jetzt auch gut – der Liebling ist die Sprache, die man so oft schüttelt, bis etwas rauskommt.
Würden Sie diese Arbeit als avantgardistisch bezeichnen?
Ja, es ist eine Art Versuch gewesen. In den fünfziger Jahren war »experimentell« nicht so geläufig wie »Avantgarde«, das ist durch die Konkrete Poesie geläufig geworden. Ich habe nie Konkrete Poesie geschrieben, es war mir zu eintönig. Ich wollte mit der Sprache etwas Neues machen und nicht den traditionellen Trott fortführen.
Wie war das denn damals in den fünfziger Jahren in Wien?
Wir konnten keine Verlage finden, einige Autoren veröffentlichen in Deutschland und in der Schweiz. Eigentlich war es ein einziger Kampf. Es gab eine sehr gute österreichische Literaturzeitschrift, »Plan«, in der außer mir auch Aichinger und Fried veröffentlicht wurden. 1956 kam ein erstes Buch von mir im österreichischen Bergland Verlag heraus »Larifari. Ein konfuses Buch« – eine Totgeburt, es war nur in den städtischen Büchereien zu bekommen, nicht im Handel. Ein ganz frühes Gedicht war schon vom Surrealismus beeinflusst, da heißt es: »die Fenster sind verhängt mit Lanzen..«
Die Verbindung zum Surrealismus wird bei Ihnen häufig gezogen. Ihre Arbeiten hätten etwas mit der »écriture automatique« zu tun, sagt man.
Nein, da ist keine »écriture automatique« – ich überarbeite meine Texte sehr oft, nichts bleibt so, wie es in der ersten Fassung war. Auch die Träume sind zum Teil erfunden. Ich arbeite viel mit exzerpiertem Material.
Zitate sind oft ein wichtiger Bestandteil der Montage …
Die Zitate sind zum Teil aber auch abgeändert, die werden nicht immer so verwendet, wie ich sie gefunden habe. Ich mache dann, obwohl es fremde Materialien sind, meinen eigenen Text daraus. Häufig dient dieses Verfahren dazu, um in Schwung zu kommen, so wie ich die Musik verwende, damit sie mich antreibt. Das Zitat benutze ich als Anregung, um dann sozusagen drüberzumalen. Ich male etwas drüber, und damit verfremde ich es. Sie merken, meine Technik hat einen starken Bezug zur bildenden Kunst, wie bei Arnulf Rainer, der Drucke übermalt.
Hätten Sie gern zu einer literarischen Gruppe gehört?
Ich wollte keine Gruppe. Ich wollte eigentlich immer meine eigenen Sachen machen. Ernst Jandl und ich wollten auch nie zusammengespannt werden. Wir haben wirklich jeder unsere eigenen Arbeiten gemacht, und es sind ja in der Tat ganz gegensätzliche Texte entstanden.
Haben Sie sich denn durch Ihre Arbeiten untereinander inspiriert.
Das kann man nicht sagen. Ernst Jandl hat mir jeden Abend, wenn ich gekommen bin, die neuesten Gedichte zum Lesen gegeben. Ich war immer sehr neugierig auf diese Texte und habe ihm danach gesagt, wie gut sie mir gefallen. Daraufhin hat er dann gesagt: »Du bist keine gute Kritikerin, weil Du nie kritisierst.« Die Gedichte waren aber wirklich nicht zu kritisieren, denn es waren vollkommene Gedichte. Er ist als fertiger Dichter vom Himmel gefallen, während ich einen langen Anlauf brauchte. Ich habe zwar 1946 schon publiziert, aber bis es dann wirklich richtige Poesie war, hat es schon noch gedauert.
Wie merkt man denn, wenn es »richtige« Poesie ist?
Das spürt man. Ich würde es auf das Jahr 1971 nach meiner experimentellen Phase datieren. Es war das Buch »je ein umwölkter gipfel«. Da habe ich gewusst, dass ich auf dem richtigen Weg bin, und dann habe ich aufgehört zu experimentieren, weil mir das einfach zu langweilig war. Wenn man eine längere Zeit so gearbeitet hat, hat man schließlich genug davon und muss etwas anderes machen. Jahrelang lässt sich nicht in derselben Methode arbeiten. Mein jetziges Schreiben lässt die Wirklichkeit mehr ein. So bin ich immer näher an die Realität herangekommen. Aber immer auch wieder einen Schritt zurück. Die »Heiligenanstalt« ist so ein Schritt zurück, ein vollkommen experimenteller Text, wo ich alles angewandt habe, was ich beim experimentellen Schreiben lernte.
Bei Ernst Jandl war ein ähnlicher Vorgang sichtbar.
Bei ihm war es ganz anders. Er hat immer alles zugleich gemacht. Man kann nicht sagen, dass er zuerst experimentell und dann nicht-experimentell gedichtet hat, denn er hat bis zuletzt wirklich experimentell gearbeitet. Das ist nicht so ein Verlauf wie bei mir, und das hat er auch immer gesagt, wenn man ihn daraufhin angesprochen hat, dass er jetzt nichts mehr so mache wie früher. Dann hat er gesagt, dass er alle Möglichkeiten ständig ausschöpft, das experimentelle, das nicht-experimentelle, das akustische und die visuelle Poesie – da war alles immer da.
Mit Jandl waren Sie auch beim Bielefelder Colloquium Neue Poesie. Haben Sie sich an den Diskussionen im Plenum gern beteiligt?
Ich habe mich schon beteiligt, aber trotzdem manchmal lieber zugehört. Das Bielefelder Colloquium war eines der größten Erlebnisse innerhalb meiner gesamten poetischen Aktivitäten. Wir haben ja im kleinen Kreis vorgelesen, und das war höchst interessant, was an unpublizierten Sachen vorgelesen wurde.
In Ihren Büchern arbeiten Sie häufig mit sich verändernder Typographie.
Das Kursivgedruckte simuliere ich auf meiner Schreibmaschine, indem ich die Worte unterstreiche. Das heißt dann, dass es ganz wichtig ist und anders ausgesprochen werden muss. Wenn ich Großbuchstaben verwende, dann muss es laut gesagt, ja fast geschrieen werden.
Wenn man das leise zu Hause liest, dann fällt einem das Großgedruckte auf, und man denkt sich, dass man damit nun irgendetwas machen könnte. Wenn die Leute meine Lesungen hören, dann bleibt es in dem Ohr des Hörers haften. Das haben mir viele Hörer schon gesagt, dass meine Stimme ihnen hilft beim Leiselesen.
Wie lange schreiben Sie ungefähr an einem Gedicht?
Es ist verschieden, es gibt Gedichte, die ich in wenigen Minuten geschrieben habe, es gibt aber auch Gedichte, an denen ich tagelang schreibe. Ein sogenanntes »Minutengedicht« ist das Gedicht »was brauchst du«: Ich habe es beim Anblick eines sehr schönen Baumes notier und zu Hause dann reingeschrieben, nichts mehr geändert.
Sie haben mal gesagt, dass Sie nur in Wien schreiben könnten. Ein halbes Jahr waren Sie in Berlin. Stimmt es, dass Sie an den Wochenenden wieder zum Schreiben nach Wien geflogen sind?
Nicht jedes Wochenende. Vielleicht ein Mal in vier oder fünf Wochen, und dann habe ich Hörspiele in Wien geschrieben. Das war meine Hörspielzeit. Aber ich habe wirklich in Berlin nichts geschrieben; da gab es im Haus einen sehr lieben Hund, mit dem ich mich angefreundet habe und den ganzen Tag spazieren gegangen bin – das war meine ganze Beschäftigung.
Welchen Einfluss haben andere Schriftsteller wie zum Beispiel Gottfried Benn auf Ihr Werk?
Gottfried Benn hat keinerlei Einfluss auf meine Arbeit gehabt. Aber immer noch Hölderlin, Jaques Derrida, Hélène Cixous, Roland Barthes, Marguerite Duras, und früher, in den sechziger Jahren, auch Arno Schmidt, aber natürlich auch Gertrude Stein in der jüngsten Zeit.

Hegen Sie eigentlich prinzipielle Zweifel an der Möglichkeit von Kommunikation durch Sprache?
Natürlich funktioniert die Sprache, wenn man sie behandeln kann und in den Griff bekommt. Dann kann man alles sagen. Es ist die Frage, ob man ein so guter Dichter ist, dass man alles ausdrücken kann, was man ausdrücken will. Missverständnisse entstehen doch, weil die Leute sich nicht präzise artikulieren. Im Grunde darf man nichts dem Leser überlassen, der Leser darf eigentlich nicht stolpern – man muss ihm oder ihr zuarbeiten.
Sie bekommen recht viele Briefe von Lesern?
Ja, ich lese alle Briefe, die ich bekomme, und es sind größtenteils Begeisterungsbriefe, die mich so zwei- bis dreimal in der Woche erreichen. Meistens sind es immer wieder neue Leute, aber es gibt auch welche, die öfter schreiben. Ich habe früher sehr viel mehr Briefe verfasst, aber jetzt komme ich einfach nicht mehr durch mit der Korrespondenz. Die liegt bei mir haufenweise. Es ist immer die Frage, ob man lieber korrespondieren oder schreiben soll. Dann muss man sich natürlich für das Schreiben entscheiden. Die Reaktionen von den Lesern sind aber wichtig und interessant. Manchmal beziehen sich die Leute auch auf meine frühen Sachen, aber vor allem reagieren sie auf die jüngsten Arbeiten. Zu »brütt« gab es sehr viele Briefe und auch jetzt zu den »Gesammelten Gedichten«.
Das Interview mit Friederike Mayröcker ist an zwei Terminen entstanden, am 9. April 2005 in Wien und am 9. Juli 2005 in Detmold.
| THOMAS COMBRINK
| Abb. 1: Wolfgang H. Wögerer, Wien, Austria., Vienna 1974-11, Buchwoche, Austrian writer Friederike Mayröcker, CC BY-SA 3.0
| Abb. 2: Wolfgang H. Wögerer, Wien, Austria., Ernst Jandl and Friederike Mayröcker, public reading, 1974-11, Vienna, Austria, CC BY-SA 3.0