Teaser: Die Protagonist:innen der Spielforschung werfen sich nur allzu gern das Mäntelchen der Inter- oder Transdisziplinarität über, aber wie das dann ganz konkret aussieht, bleibt oftmals eine Leerstelle. RUDOLF INDERST unterhält sich mit Buchautorin Laura Stortz über diese Problematik und … andere Mären.
RI: Guten Tag, Laura Stortz, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen für unser Gespräch. Bitte stellen Sie sich unseren Leser:innen vor und nehmen Sie uns auf einen typischen Arbeitstag mit.
LS: Guten Tag und vielen Dank, dass ich mein Projekt hier vorstellen darf! Ursprünglich komme ich aus der Literaturwissenschaft: Ich habe in Tübingen Germanistik
und Skandinavistik und dann im Master Deutsche Literatur studiert. Mein Schwerpunkt lag schon im Masterstudium in der germanistischen Mediävistik – also auf der Beschäftigung mit mittelalterlicher Sprache und Literatur.
Bereits zu dieser Zeit habe ich angefangen, interdisziplinär zu arbeiten und einen Blick auf die Game Studies zu werfen. Diese Verknüpfung beider Disziplinen hat sich dann in meiner Dissertation fortgesetzt. Nach deren Abschluss bin ich erst einmal etwas von der Forschung abgerückt und arbeite derzeit im E-Learning-Bereich. Ich konzipiere und erstelle digitale Kurse und Lernmaterialien. Dabei liefern eine interdisziplinäre Perspektive und Ansätze aus der Literaturwissenschaft und den Game Studies immer wieder spannende Impulse.
RI: Wir wollen heute über Ihr neues Buch sprechen. Es trägt den Titel Ludonarrative Grenzgänge und ist im Verlag Werner Hülsbusch erschienen. Mich interessiert Ihre Themenfindung und die Entstehungsgeschichte.
LS: Der Grundgedanke zu der Arbeit entstand während meines Masterstudiums, als ich ein Seminar zu mittelhochdeutschen Mären besuchte. Das sind kurze, häufig komische Erzählungen, in denen oft Gewalt und Grenzüberschreitungen eine große Rolle spielen und die sich in der Regel stereotypen Handlungsmustern und Figuren bedienen. Dabei fiel mir auf, dass Videospiele in ihrer Struktur sehr viel mit diesen mittelalterlichen Erzählungen gemeinsam haben. Diese Idee hatte sich dann zum Ende meines Masterstudiums immer weiter konkretisiert und schließlich ist daraus die Dissertation entstanden, die jetzt im Verlag Werner Hülsbusch vorliegt.
RI: Sie schlagen vor, ludonarrative Dissonanz nicht als Problem, sondern als Chance zu betrachten. Können Sie erklären, wie diese Perspektive die Art und Weise verändert, wie wir narrative digitale Spiele analysieren und gestalten?
LS: Wenn Reibungen zwischen Spielen und Erzählen nicht als negatives Merkmal betrachtet werden, dann kann man sie als Aufforderung verstehen, sich aktiv mit dem Spiel und seiner »Gemachtheit« sowie seinen Limitierungen, aber auch seinen Möglichkeiten, auseinanderzusetzen. Ludonarrative Dissonanzen können für Rezipient:innen zur Aufforderung werden, sich bewusst zu machen, dass sie ein Spiel spielen und sie können reflektieren, in welchem Ausmaß sie das Spiel und dessen Erzählung steuern und in welcher Weise sie selbst vom Spiel gesteuert werden. Im Hinblick auf die Gestaltung narrativer Spiele kann es dabei interessant sein, ludonarrative Dissonanzen bewusst zu nutzen, um die Spieler:innen immer wieder an diese Grenzen zu führen.
RI: In Ihrem Buch ziehen Sie Parallelen zwischen mittelalterlichen Mären und modernen Videospielen. Was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Art und Weise, wie diese beiden Formen »Erzählen als Spiel« praktizieren?
LS: Sowohl Mären als auch viele narrative Videospiele bieten den Rezipient:innen immer wieder an, den Verlauf der Erzählung mehr oder weniger aktiv mitgestalten zu können. Sie übernehmen dabei in gewisser Weise die Rolle eines »Mit-Autors«. Bei Videospielen funktioniert das über die Eingaben der Spieler:innen, zum Beispiel durch die Auswahl einer bestimmten Dialogoption oder durch die Entscheidung, eine Situation im Spiel mit bestimmten Gameplay-Mechanismen wie Heimlichkeit oder Kampf zu lösen. Bei Mären hingegen erfolgt der Eingriff in die Erzählung etwas weniger direkt. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass Mären und allgemein mittelalterliche Literatur keine »Lese-Literatur« war, wie wir sie heute kennen. Mären wurden vor einem Publikum vorgetragen. An dieser Vortragssituation konnte sich das Publikum aktiv beteiligen, direkt auf das Gehörte reagieren und Zustimmung oder Protest ausdrücken. Aufgrund dieser Rückmeldung konnten die Vortragenden die Erzählung lenken. Gleichzeitig konnte auch jeder Zuhörer eine Märe wiedererzählen und dabei Anpassungen am Handlungsverlauf vornehmen. Diese Varianzen kann man mit unterschiedlichen Spieldurchläufen bei modernen narrativen Videospielen vergleichen.
RI: Es geht ebenso um die Rolle der Rezipient:innen, die durch ihre Entscheidungen die Geschichte und moralischen Wertungen beeinflussen. Wie können Spieler:innen oder Leser:innen Ihrer Meinung nach am besten dazu ermutigt werden, diese aktive Rolle anzunehmen und das »Spiel mit der Welt« zu nutzen?
LS: Wichtig ist, dass die Erzählung eine gewisse Offenheit bietet, die es den Rezipient:innen ermöglicht, aktiv einzusteigen. Das kann in einem Videospiel zum Beispiel darüber erfolgen, dass die Spieler:innen erkennen, dass sie Situationen auf verschiedene Arten lösen können und manche Optionen eher positive, andere eher negative Auswirkungen auf die Welt und die Erzählhandlung haben. Dadurch werden sie zum Experimentieren motiviert. Lineare Erzählungen in Videospielen und auch in der Literatur können diese Offenheit ebenfalls beinhalten, indem sie vermeiden, die Rezipient:innen zu stark an die Hand zu nehmen und ihnen Wertungen über Ereignisse und Charaktere vorzugeben, zum Beispielüber Erzählerkommentare oder die Vergabe von »Moralpunkten«.
RI: Sie beschreiben ludonarrative Dissonanz als eine Möglichkeit, die eigenen Wertvorstellungen zu hinterfragen. Können Sie ein konkretes Beispiel aus einem digitalen Spiel oder einem mittelalterlichen Märe nennen, das diese These besonders gut veranschaulicht?
LS: Ein Beispiel aus einem digitalen Spiel findet sich in ›Vampyr‹, einem Rollenspiel, in dem die Spieler:innen einen Arzt spielen, der zum Vampir wird und nach seiner Verwandlung damit hadert, Menschen töten zu müssen. Auf erzählerischer Ebene haben wir daher immer wieder die Möglichkeit, die Nebenfiguren im Spiel besser kennenzulernen, ihre Hintergrundgeschichten zu erforschen, empathisch zu reagieren, ihre medizinischen Probleme zu behandeln und sie nicht zu töten. Allerdings bringt gerade das Töten dieser Figuren einen entscheidenden Gameplay-technischen Vorteil: Denn umso besser die Spieler:innen eine dieser Figuren kennen, umso mehr Erfahrungspunkte erhalten sie, wenn sie diese töten und umso leichter wird dadurch das Spiel, weil man schneller auflevelt. Auf erzählerischer Ebene wird den Spieler:innen also ein Protagonist mit einem Gewissenskonflikt präsentiert, während auf der Gameplay-Ebene das Töten belohnt wird, indem es die Spieler:innen stärker macht. Diese Dissonanz führt den Spieler:innen die Verlockungen der Machtfantasien vor Augen, durch die viele Videospiele so faszinierend und unterhaltend sind. Diese Machtfantasie in ›Vampyr‹ ausleben zu wollen, heißt immer auch, die Rolle eines Monsters einzunehmen und bewusst entgegen ethisch-moralischer Grundsätze zu handeln. Gleichzeitig können sich die Spieler:innen auch dazu entscheiden, das Töten abzulehnen. Allerdings wird das Spiel dadurch schwerer und sie sehen sich unter Umständen dazu gezwungen, doch eine Entscheidung über Leben und Tod einer der Nebenfiguren treffen zu müssen, um das Spiel überhaupt weiterspielen zu können. Dieser Zwang führt dazu, dass sie sich mit der Frage beschäftigen müssen, nach welchen ihrer eigenen ethisch-moralischen Wertevorstellungen sie entscheiden, welche der Nebenfiguren den Tod verdient hat.
In Mären finden sich diese Einladungen zum aktiven Spiel mit den eigenen Moralvorstellungen meist im Bruch zwischen Erzählung und Erzählerkommentar: Der Erzähler versucht, das Geschehen moralisch einzuordnen, was allerdings mit den Wertungen kollidieren kann, die das Publikum aus dem Geschehen gezogen hat. Das Publikum kann sich in der Folge vom Erzähler als Moralinstanz abwenden und sich voll und ganz auf die absurde und oft von Gewalt und Grenzüberschreitungen geprägte Erzählhandlung einlassen, die vielen Mären zu eigen ist. Oder sie können dem Erzähler folgen und dadurch versuchen, die in der Erzählung erfahrenen Entgrenzungen einzuhegen und mit den eigenen Wertevorstellungen vereinbar zu machen.
RI: Ihr Ansatz verbindet schließlich mittelalterliche Literaturwissenschaft mit modernen Game Studies. Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in dieser interdisziplinären Herangehensweise, und wie könnte sie zukünftige Forschungen in beiden Feldern beeinflussen?
LS: Eine Chance der interdisziplinären Perspektive ist es, vor allem im Hinblick auf das Erzählen neue Blickwinkel zu eröffnen, die sich aus anderen Disziplinen, die vielleicht auf den ersten Blick näher verwandt scheinen, nicht unbedingt ergeben. Die mediävistische Forschung stößt bei der Arbeit mit der klassischen Literaturwissenschaft immer wieder an Grenzen, da die Texte nicht als »Lese-Literatur« konzipiert sind. Ähnliches gilt auch für die Game Studies und die Untersuchung der erzählerischen Mittel im Spiel mit literatur- und filmwissenschaftlichen Ansätzen. Für die Mediävistik kann es daher lohnend sein, die Rezipient:innen als Spielende zu betrachten. Für die Game Studies hingegen kann die Beschäftigung mit der Struktur mittelalterlicher Erzählungen, die häufig einer Art Quest-Struktur folgt und auf losgelösten Episoden und immer wiederkehrenden Motiven basiert, interessant sein. Die Herausforderung besteht darin, die Gemeinsamkeiten zu erkennen und in der Forschung nutzbar zu machen, gleichzeitig aber auch die Grenzen der Interdisziplinarität zu berücksichtigen. Trotz aller Parallelen, die man in der Erzählstruktur und auch thematisch im Umgang mit Gewalt und ethisch-moralischen Fragestellungen feststellen kann, sind mittelalterliche Erzählungen und moderne Videospiele grundverschieden. Es ist also immer auch eine eindeutige Abgrenzung nötig.
RI: Herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft!
Titelangaben
Laura Stortz: Ludonarrative Grenzgänge
Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2025
174 S., zahlr. farb. Abb., 24,80 Euro
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