Comic | J.-P. Filiu (Text)/C. Pomes (Zeichnungen): Der Arabische Frühling
Von einem Islamwissenschaftler und Historiker mit Erfahrung im diplomatischen Dienst verfasst und von einem Newcomer der französischen Comicszene modern illustriert, bringt Der Arabische Frühling dem Leser die Hintergründe der Revolutionsbewegung im Mittleren Osten näher – teilweise prägnant informativ, teilweise anrührend. BORIS KUNZ fragt sich jedoch, was auf der Strecke bleibt, wenn komplexe Zusammenhänge auf spannende Lektüre reduziert werden.
Über die Frage, warum im Augenblick jedes für sich stehende Comic-Werk, das sich an ein erwachsenes Publikum richtet, als »Graphic Novel« deklariert werden muss, soll weiterhin an anderer Stelle nachgesonnen werden. Klar ist, dass Der Arabische Frühling in diese Kategorie eigentlich nicht hineingehört, denn es handelt sich hier um keine Erzählung, sondern um eine Zusammenfassung jener politischen Bewegung der letzten Jahre, die in Tunesien mit der Selbstverbrennung eines jungen, von der Obrigkeit gegängelten Obsthändlers ihren Anfang nahm und schließlich zu einer Protestwelle in zahlreichen arabischen Ländern geführt hat. Dabei bewegt sich der Comic irgendwo zwischen nüchterner Reportage, gelehrtem politischem Vortrag und pathetischer Verneigung vor einzelnen, herausragenden Anführern und Märtyrern des Protestes.
Journalismus trifft Humanismus
In insgesamt 16 Kapiteln von jeweils 4 bis 8 Seiten beschreibt der Comic in loser Chronologie die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Jemen, Syrien, Libyen, Marokko oder dem Gazastreifen. Sie beginnen meist mit einem knappen Abriss der bisherigen Herrschaftsgeschichte und geopolitischen Situation des jeweiligen Landes, und meistens enden sie mit dem persönlichen Schicksal junger Pazifisten, Rapper, Schriftsteller oder anderen Persönlichkeiten, die für die Revolution viel riskiert haben und teilweise Erschütterndes erleiden mussten. Die Haltung, die sich durch all diese Kapitel zieht, ist eine mehr oder weniger zurückgehaltene Sympathie für die Protestbewegung und Abneigung gegen die totalitären Herrscher der arabischen Welt. Erst im letzten Kapitel wird auch die Position des Westens relativ polemisch unter die Lupe genommen.
Autor Jean-Pierre Filiu tritt dabei nicht (wie etwa Joe Sacco in Palästina) in den Vordergrund, um auch das Verhältnis seiner eigenen Person zu den Ereignissen zum Inhalt der Erzählung zu machen. Filiu beschreibt nüchtern und aus der Distanz. Dass er hierbei nicht neutral wie ein Nachrichtensprecher agiert, sondern mit seinen Sympathien auf der Seite der friedlichen Rebellen steht, versteht sich (zumindest gefühlsmäßig) eigentlich beinahe von selbst. Filiu vorzuwerfen, parteiisch zu sein, käme einem angesichts der Umstände, die hier beschrieben werden, ungebührend vor: Er schreibt aus einer Position des grundsätzlichen Humanismus heraus. Dennoch sollte alle Sympathie für die herausgegriffenen Einzelschicksale nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Comic – allein schon im Sinne der Überschaubarkeit – Dinge teilweise grob zusammenfasst, rafft und simplifiziert. Wie sehr und an welcher Stelle er das tut, kann der hier anvisierte, durchschnittlich informierte Leser vermutlich aber kaum beurteilen. Der Autor dieser Zeilen nimmt sich hier nicht aus.
Doku trifft Action
Zeichner Cyrille Pomes illustriert den Text eindrucksvoll. Sein etwas fahriger, nervöser Strich lässt viele Szenen wirken, als seien sie durch einen leichten Zerrspiegel betrachtet. Abgesehen von einigen dezidiert realistischen Portraits herausgehobener Persönlichkeiten zeigt Pomes das Geschehen auf den Plätzen und Straßen immer etwas stilisiert und mit großen Gesten. Polizei und Armee sind anonyme, bedrohliche Apparate, manche der Protestler dagegen werden zu modernen Ikonen der Revolution. Sein Umgang mit Architektur und Stadtlandschaften wirkt, als wisse Pomes schon sehr genau, was er hier zeichnet. Der Vergleich mit Joe Sacco drängt sich daher auch hier wieder auf. Saccos Zeichnungen sind ebenfalls überstilisiert. Sie vermitteln dem Leser aber trotzdem den Eindruck, er habe das, was er zeichnet, mit eigenen Augen gesehen. Dieser Eindruck entsteht bei Pomes jedoch nicht. Bei ihm sehen manche Bilder aus, als stammten sie aus einem Actionfilm.
Das Gesamtwerk ist eine Art Bilderbuch für alle, die den Arabischen Frühling nur halbherzig aus den Medien mitbekommen haben. Offenbar will es gleichzeitig möglichst kondensiert Informieren und dabei den Märtyrern der Revolution ein Denkmal setzen. Beides gelingt, allerdings zu dem Preis, dass sich der Comic zwar flüssig liest, sich aber formal und inhaltlich nur schwer von politischer Propaganda unterscheiden lässt. Auch wenn man kritisch hinterfragt, ob ein Comic für diese Form von aktueller, politischer Berichterstattung das richtige Medium ist, kann man sich der Faszination der Schilderung kaum entziehen. Eine kurze Passage etwa zeigt, wie Mahdi Ziu, ein unscheinbarer Angestellter einer Erdölfirma, der die Proteste eigentlich nur vom Sessel seiner Wohnung aus mitbekommt, seinen Renault mit Gasflaschen füllt und als Sprengsatz gegen das Tor einer Kaserne steuert, in dem sich Gaddafis Soldaten verschanzt haben. Damit hat er es geschafft, die blutige Belagerung der Kaserne zu beenden – und dafür sein Leben gegeben. Es ist schwer, von dieser Art Heldenmut nicht ergriffen zu sein.
Für alle, die sich über eine solche Ergriffenheit hinaus eingehender informieren wollen, hält das Buch am Ende ein umfassendes Literaturverzeichnis parat.
| BORIS KUNZ
Titelangaben
Jean-Pierre Filiu (Text), Cyrille Pomes (Zeichnungen): Der Arabische Frühling (Le printemps des Arabs)
Aus dem Französischen von Harald Sachse
Hamburg: Carlsen Verlag, 2013
112 Seiten, 15,90 Euro
Reinschauen
Informationen über Jean-Pierre Filiu
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