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Aufbruch in den Favelas

Menschen | Adrian Geiges: Brasilien brennt

Die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China firmieren als »Schwellenländer«. Adrian Geiges hat Erfahrung mit diesen Staaten, er berichtete jahrelang aus China und Russland, gegenwärtig lebt er in Brasilien. Sein neues Buch Brasilien brennt enthält Reportagen, die er gelegentlich mit seiner Arbeit für deutsche TV-Anstalten verknüpft. Er wirft einen Blick auf den Confederation Cup 2013 – der Fußball-Sommer 2014 wirft seine Schatten voraus. Im Mittelpunkt steht für ihn jedoch die Begegnung mit den Menschen. Von WOLF SENFF

Adrian Geiges: Brasilien brennt

Er übernachtete in Hütten von Indianern am Amazonas, mietete sich in einem Armenviertel von Rio de Janeiro ein, der Stadt des Karnevals und der Copacabana, und erklärt, weshalb viele der alten Favelas angesichts der bevorstehenden Copa do Mundo da Fifa gesicherte Wohngebiete wurden, von einer Polizeispezialtruppe mit harter Hand kontrolliert. Übergangsverhältnisse, ein Land im Umbruch, der Autor kennt jedoch auch Beispiele aus anderen Favelas mit Kindersoldaten und erbittertem Clankrieg.

Brasilien brennt ist äußerst angenehm zu lesen, weil es nicht, wie der Untertitel erwarten lässt, kategorisch in diverse abgeschlossene Reportagen untergliedert ist, sondern dem Leben des Autors folgt, wodurch sogar Nähe entsteht, der Leser fühlt mit, empfindet mit, begleitet den Autor. Aus dem Sprachunterricht des Autors erfährt der Leser nebenher, dass unsere kolonialistischen europäischen Freunde ihre Sklavenhaltung äußerst brutal handhabten, die Sklaverei dort erst 1888 gesetzlich abgeschafft wurde und dass mit Hausangestellten noch heute ungewöhnlich rigide umgegangen wird, eine Tradition der weißen Oberschicht, unmöglich, die kann man nicht auslöschen von heute auf morgen.

Sozial wird neu gewichtet

Brasilien steht mitten in einem massiven Umbruch, wir erfahren Einzelheiten aus der Biographie Lulas, unter dessen Präsidentschaft eine grundlegende soziale Neuorientierung eingeleitet wurde, und wir erfahren, dass Brasiliens staatliche Schulen für ihre Schüler täglich eine, in armen Gebieten zwei freie Mahlzeiten anbieten – ein Angebot, das in München und anderen großen Städten Deutschlands die Tafeln gerade erst einfordern, gelegentlich ist Politik in Deutschland nicht recht auf der Höhe der Zeit oder, mag man sogar sagen, hinter dem Mond, und man versteht, dass der Autor die Kontraste zu Deutschland aufmerksam wahrnimmt.

Überhaupt sieht es aus, als komme Deutschland nicht so besonders gut weg. Rund die Hälfte der Deutschen, die in Rio leben, sagt er, seien Kriminelle, die aus Deutschland geflohen seien, und diverse Zuhältergrößen von der Reeperbahn hätten am Zuckerhut einen Zweitwohnsitz, Euro macht glücklich.

Weckt es Neidgefühle, wenn Adrian Geiges den Alltag von Tavares Bastos schildert, seiner »Comunidade«, Gemeinschaft, wie die Favelas mittlerweile amtlich heißen? Er blickt auf eine vorurteilsfreie, dem Leben zugewandte, offene, unverkrampfte Welt. Leidenschaftlich im Streit, leidenschaftlich im gemeinsamen Erleben. Grillfleisch, schreibt er, sei die dritte brasilianische Leidenschaft neben Fußball und Sex; er genießt sein Leben in dieser Favela, schreibt von Männern und Frauen, die in mehreren Berufen arbeiten, um ihr Leben zu finanzieren, und verweist auf die in Brasilien zahlenmäßig wachsende Mittelschicht. Er schwärmt von Tavares Bastos, deren Besuch den Touristen sogar von Lonely Planet empfohlen wird.

Zwei Nationen im Fokus

Wir erfahren eine Menge über die aktuelle Situation in Brasilien. Dilma Roussef wurde vom Militärregime als Terroristin verfolgt, sie wurde gefoltert, sie war drei Jahre in Haft und folgte Lula im Präsidentenamt nach. In Deutschland, wir erinnern uns, war das alles auffällig anders gewesen. Willy Brandt, in Norwegen im Exil gegen die Nazi-Diktatur, blieb nach seiner Rückkehr in die Heimat über viele Jahre hinweg Diffamierungen ausgesetzt.

Ein wichtiges Thema in Brasilien brennt sind die Freuden und Wehen, die die Eröffnung der Copa do Mundo da Fifa begleiten, so auch das vom deutschen Architektenbüro von Gerkhan, Marg und Partner verantwortete Stadion in Manaus, einer Stadt mitten im Regenwald, ein abenteuerliches Projekt, 200 Millionen Euro, und heimische Vereine, die maximal in der dritten Liga kicken, na denn. »Wer soll nach der WM im Stadion von Manaus spielen? Die Affen? Oder die Krokodile?« (Giovane Elber).

Kontroverse Interessen

Außerdem, so argumentieren die regionalen Umweltschutzverbände, wären diese Mittel weitaus sinnvoller für Hege und Pflege des Regenwalds investiert; diesen Vorwurf einer grandiosen Fehlinvestition präzisiert der Autor an diversen Projekten.

Er schildert den Tag des traditionsbeladenen Halbfinales zwischen Brasilien und Uruguay im Confederation Cup in Belo Horizonte, wo fünfzigtausend Menschen gegen Korruption und überteuerte Stadionbauten demonstrierten, er ist während des Endspiels wieder in Rio de Janeiro, wo sich die Favelas der Armen direkt hinter dem für 424 Millionen Euro renovierten Stadion befinden. Unübersehbare Gegensätze, Tausende Demonstranten, erbitterte Auseinandersetzungen.

Ein Mega-Event, global inszeniert

Geiges führt Umfragen von Juni 2013 an, denen zufolge 80 Prozent der Brasilianer die Demonstranten unterstützen; in neuesten Umfragen ist diese Unterstützung jedoch auf 50 Prozent zurückgegangen, die gewalttätigen Ausschreitungen waren abschreckend. Die Bevölkerung ist ernüchtert, und es steht zu erwarten, dass Dilma Roussef kein Problem haben wird, im Oktober wiedergewählt zu werden.

Brasilien brennt ist ein hochaktuelles Buch, willkommene Pflichtlektüre eigentlich für Silvio Blatter, dessen Fifa die »Copa der copas« unverdrossen als ein Mega-Event der globalen Unterhaltungsindustrie inszeniert. Spannende Wochen und Monate stehen ins Haus. Durchaus möglich, dass im Juni und Juli die Spielergebnisse gar nicht die wichtigsten Nachrichten sein werden, die uns Brasilien übermittelt.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Adrian Geiges: Brasilien brennt. Reportagen aus einem Land im Aufbruch
Köln: Quadriga 2014
288 Seiten. 19,99 Euro

Lesung
Adrian Geiges stellt Brasilien brennt in Freiburg vor:
26.03.2014, 18 Uhr
Historisches Kaufhaus, Münsterplatz 24, 79898 Freiburg

Reinschauen
Brenzlige Themen zum Schmökern – Wolf Senff zu 11 Freunde – Magazin für Fußballkultur
Licht wo zu viel Schatten lag – Sven Gernand zu Thomas Kistner: Fifa-Mafia (erweiterte Neuauflage 2014 als Taschenbuch verfügbar: 496 Seiten. 12,99 Euro)

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