Bühne | Theater: Michel Houellebecq: Unterwerfung. Im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg
Was passiert, wenn alle sozialen Verbindungen zerfallen? Edgar Selge schafft in einem über zweistündigen Monolog die meisterhafte Entführung seines Publikums in die Schreckenswelt von Houellebecqs ›Unterwerfung‹. Provozierend, anregend und amüsierend. Von MONA KAMPE
Alle Augen sind auf ihn gerichtet, als er die Bühne betritt. Ein gestandener, gebildeter Mann, der angeregt und ein wenig selbstironisch von seinem Leben erzählt. Ein Literaturwissenschaftler namens François, der sich nicht ziemt, von seinen einstigen geistigen sowie sexuellen Höhenflügen zu berichten.
Die Ehe und Familiengründung bereits als sinnlose Konstruktionen abgetan, lenzt er fortwährend als Freigeist von einer Affäre in die nächste. Doch das sporadische Vergnügen bereit ihm und seinen studentischen Geliebten zunehmende Enttäuschung. Seine intellektuelle Hochzeit ist zudem längst vorbei. Fällt er etwa der Andropause zum Opfer?
Parallel zu sämtlichen kurzen Röcken auf dem Hochschulgelände beobachtet er aufmerksam die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Die Muslim-Bruderschaft und ihr charismatischer Anführer erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, auch bei den liberalen Parteien, die den Sieg der wachsenden Rechtsextremisten, der ›Front National‹ um Marine Le Pen, unbedingt verhindern müssen. Denn die Straßen in Paris gleichen bereits jetzt einem bürgerkriegsähnlichen Szenario. So schließen sie sich zusammen und stellen 2022 den ersten muslimischen Präsidenten Frankreichs.
François ist auf Anraten eines Freundes am Tag nach der Wahl aus der Stadt geflohen und erholt sich auf dem Land. In den nächsten Wochen wird sich die Welt, wie er sie kennt, verändern, denn die muslimische Bruderschaft verwandelt das Land in ein totalitäres Regime, indem Frauen keine Rechte genießen, Monogamie und Kapitalismus versagt haben. Die schlimmstmögliche Wendung tritt ein, denn das einst demokratische Volk nimmt die neuen Ordnungen ohne Aufschrei hin.
Provokante Schreckensvision eines Untergangs des westlichen Wir
Karin Beier gelingt bereits im Februar 2016 mit der Uraufführung ihrer Bühnenversion von Michel Houellebecqs umstrittenen Roman ›Unterwerfung‹ am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg ein kulturell-politisches, gesellschaftskritisches Highlight. Das im Januar 2015 erschienene Werk konstruiert eine Schreckensvision der französischen Gesellschaft durch ihre Muslimisierung und Herrschaft des Okzidents.
Zugleich zeichnet es den Untergang der westlichen Demokratie durch den Zerfall sozialer Verbindungen und Strukturen. Das egomanische Volk ist müde und sucht nach neuem Sinn sowie Ordnung in einer chaotischen Welt. Der Muslim-Bruderschaft gelingt es, durch ihre Traditionen und Werte, schnell Sicherheit und Stabilität zu schaffen – eine widerstandslose Verführung ins totalitäre Regime, die aktuellen Befürchtungen nahe kommt.
Beier gelingt es, das furchtlose Gesellschaftsdenken des Autors und den Verfall des Westens bzw. Christentums oder Europas durch ein schlichtes Bühnenbild, ein sich drehendes Kreuz, und die perfekte Besetzung François meisterhaft in einem über zweistündigen Monolog zu inszenieren. Edgar Selge überzeugt als überragender Provokateur, Selbstinszenierer und Unterhalter.
François’ Leben als Spiegelbild einer verführten Gesellschaft
Parallel zu dem Ordnungssystem im Land ist auch François’ Dasein zunehmend vom Verfall gekennzeichnet. Er verliert nicht nur seine Professur an der Universität, an der nur noch islamische Grundsätze gelehrt werden und keine kurzen Röcke mehr zu sehen sind, sondern auch seine Freude am Leben. Immer häufiger treten körperliche und geistige Beschwerden auf. Mit herrlicher Selbstironie und leichtem Zynismus klettert Selge im Kreuz auf und ab und interpretiert seine Beobachtungen, bis er es nicht mehr ohne Hilfe hinaufschafft.
Sein Gesicht mittlerweile schneeweiß und von Schmerz verzerrt, bekommt die Aussicht, die ihm der muslimische Anführer verspricht, immer mehr innere Zustimmung. Er gibt sich schließlich der hoffnungsvollen Zukunft einer konvertierten, polygamen Professur hin, in der er selbst einen Harem von Gattinnen um sich versammelt, die »sich nicht Schöneres vorstellen können, als ihn zu bekommen«.
Dem Hauptdarsteller gelingt mit seinem Monolog eine schockierende und direkte Provokation. Durch Publikumsnähe, Selbstironie und Charisma schafft er es, Houellebecqs Gesellschaftskritik authentisch und unterhaltsam auf die Bühne zu transferieren und alle Zielgruppen anzusprechen. So nimmt jeder Zuschauer etwas aus der Reise in die Schreckensvision mit – sei es Nachdenklichkeit, Betroffenheit, Empörung über die Herabstufung der Frau, Diskussionsbedarf, Begeisterung für die schauspielerische Leistung, Faszination für das Welt-Konstrukt oder eigene Ironie in dieser.
| MONA KAMPE
| Fotos © KLAUS LEFEBVRE
Titelangaben
Michel Houellebecq: Unterwerfung
Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
Ein Monolog mit Edgar Selge
Regie:Karin Beier, Bühne:Olaf Altmann, Kostüm:Hannah Petersen, Musik:Daniel Regenberg, Licht:Rebekka Dahnke, Dramaturgie:Rita Thiele
Termine
Di. 21.11.2017: 20:00 Uhr
Mi. 22.11.2017: 20:00 Uhr