/

Man(n) ist sprachlos

Bühne | Bodyrule im Hamburger Sprechwerk

Übergriffigkeit, Schweigen, Schuld. Die MeToo-Debatte hat viel aufgewirbelt – doch nicht genug. Das weiß man(n), wenn man das neue Stück von Denise Stellmann sieht. Ein persönlicher Eindruck von MONA KAMPE

Wer Denise Stellmann kennt, erwartet viel – Movie meets Stage, emotionale Monologe, charakterstarke Darstellungen und authentische Themen. Dieses Mal ist alles anders. Zumindest fast. Man trifft auf eine reduzierte Bühne mit zwei Sesseln, einem Stehtisch und stillen Wassergläsern. Zwei Darstellerinnen nehmen Platz. Eine hat zuvor ein langes Intro gehalten. Sie moderiert eine Talkshow. Ihr heutiger Gast ist eine Journalistin, die die Übergriffigkeit ihres ehemaligen Chefs öffentlich gemacht hat.

In den nächsten zweieinhalb Stunden werden die beiden sprechen – oder sollte ich lieber sagen verhören und verteidigen? Die Gastgeberin wird viele Fragen stellen, unangenehme, persönliche Fragen, die die Betroffene bis ins Mark treffen und ihre Glaubwürdigkeit anzweifeln. Im Zweifel für den Angeklagten, oder? Warum nicht für das Opfer? Aber ist sie nicht selbst schuld, weil sie schwieg? Jeder hat ein Gespür für Grenzen! Oder gibt es nur die subjektive Wahrnehmung und Zeichnen können unterschiedlich gedeutet werden? Gibt es Bodyrules und die eine Wahrheit einer Geschichte?

Wer hat denn nun eigentlich recht?

Augenrollen. Nicht schon wieder eine MeToo-Debatte. Davon gab es viele. Doch keine wie diese. Denn Denise Stellmann nähert sich dem Thema auf einem neuen Weg. Wie bei jeder guten Diskussion gibt es zwei Seiten. Die emotionale, betroffene Feministin, die aufschreit, nachdem sie zu lange tatenlos zuschaute und die harte, faktische Realistin, deren Aufgabe es ist, die Wahrheit zu finden. Eine Wahrheit, die nicht gefunden werden kann. Denn offizielle Zeugen gibt es nicht. Sie kann der jungen Journalistin, die vehement ihren Standpunkt vertritt, nur glauben. Das Publikum wird oft zweifeln, ob sie es tut.

Wie definiert man Übergriffigkeit? Wo sind die Grenzen? Wer von beiden hat recht? Die Hamburger Regisseurin stellt ihren Protagonisten, den Zuschauern und sich selbst alle essenziellen Fragen. Die authentische Geschichte – und hier ist sie sich treu geblieben – wird von allen Seiten beleuchtet, sowie die Damen auf der Bühne. Denn nicht nur Christina Fliether als Opfer muss einen Seelenstriptease hinlegen und aus ihrer Haut fahren, auch die kühle Fassade der Moderatorin und ehemaligen Verteidigerin Cosma Dujat bröckelt.

Die reduzierte Bühne erlaubt den beiden ein wahres, großartiges Charakterspiel, das alle Stigmata und Gesellschaftsdiskurse abbildet, hinterfragt und über sie hinauswächst. Die hitzige Debatte lässt das Publikum mitfiebern, mitfühlen und mitkochen. Man(n) ist sprachlos.

Das Thema, das tot medialisiert wurde, lebt am Abend wieder auf – #schweigenbringtnichts. Doch die Reaktion der Zuschauer zeigt, dass es noch lange nicht ausdiskutiert ist. Es fängt gerade erst an. Bei uns. Bei unserem Sitznachbarn. Denise Stellmann ist sich treu geblieben: Sie erzählt authentische Geschichten, die uns bewegen. Hoffentlich in die richtige Richtung. Denn sie hat Recht – ich hoffe, das ist klar.

| MONA KAMPE

Titelangaben
Bodyrule
Hamburger Sprechwerk
Mit: Cosma Dujat, Christina Fliether. Regie: Denise Stellmann.
Foto: Julia Santoso

Reinschauen
| Denise Stellmann auf Facebook

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Blutdurst und Rachehunger

Nächster Artikel

Audrey Hepburn und das Little Black Dress

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

»Ich will sterben« – Der mediale Werther

Bühne | Goethes ›Die Leiden des jungen Werthers‹ im Badischen Staatstheater Karlsruhe Werther (Seit 2012/13 im Ensemble und souverän im jugendlichen Elan: Michel Brandt) liebt und leidet − unglücklich mit dem Gefühl für die Frau eines anderen Mannes im Herzen. Von JENNIFER WARZECHA

Die unterschätzte Krankheit

Live | Diabetes Charity Gala Bei der 8. Diabetes-Charity-Gala konnten Rekordspenden in Höhe von über 110.000 Euro für wichtige Gesundheits-Projekte gesammelt werden. Der diesjährige ›Thomas-Fuchsberger-Preis‹ geht an Michael Bertsch. ANNA NOAH informiert sich über eine unterschätzte Volkskrankheit.

Zurück in die 80er

Bühne | Musical: Rock of Ages ›Rock of Ages‹ ist laut, nostalgisch und frech. Welches Kind der 80er Jahre hätte jemals gedacht, dass dieser Zeit einmal ein musikalisches Denkmal gesetzt wird? Wer hätte sich träumen lassen, dass eine handylose Ära tatsächlich eine reizvolle Zeit war? ANNA NOAH fragt sich, ob die gezeigte Sehnsucht real ist.

Ist ja alles so schön bunt hier

Bühne | ›Peer Gynt‹ von Henrik Ibsen in der Inszenierung von David Bösch im Residenztheater München Theatereffekt, Theatereffekt, Theatereffekt und turbulente Komik mitten im Wald. ›Peer Gynt‹ von Henrik Ibsen in der Inszenierung von David Bösch im Residenztheater München – TINA KAROLINA STAUNER war dabei.

Gut gegen Winterblues

Bühne | Tour de Farce im Theater das Zimmer

Wen trifft man so alles in seinem Hotelzimmer? Page, Zimmermädchen, aber eine Nonne? Doch das ist noch lange nicht alles, was hier faul ist. Von MONA KAMPE